nd-aktuell.de / 11.08.2015 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 9

Japan ist nicht mehr atomstromfrei

Ärzteorganisation kritisiert Rückkehr zur Atomkraft

Reimar Paul
Erstmals seit der Fukushima-Katastrophe im Frühjahr 2011 geht in dem asiatischen Land wieder ein Kernkraftwerk in Betrieb - Kritik kommt auch von den deutschen Grünen.

Update 13.00 Uhr: Ärzteorganisation kritisiert Japans Rückkehr zur Atomkraft
Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW hat den Wiedereinstieg Japans in die Atomkraft scharf kritisiert. Wider besseren Wissens und gegen den Willen der Bevölkerung kehre das Land zur Atomkraft zurück, heißt es in einer am Dienstag in Berlin verbreiteten Pressemitteilung der Organisation Ärzte gegen einen Atomkrieg (IPPNW).

Mit großer Sorge werde gesehen, dass mehr als vier Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe von Fukushima im südjapanischen Sendai wieder der erste Atomreaktor ans Netz gehen soll. Dabei sei eine Energiewende hin zu erneuerbaren Energieformen für den sonnen- und windreichen Inselstaat naheliegend. Zudem säßen einige der führenden Wind- und Solarenergieunternehmen der Welt in Japan sitzen. Auch Geothermie- und Energieeffizienzmaßnahmen seien in Japan relativ unkompliziert umzusetzen, wie Studien immer wieder gezeigt hätten.

Wegen gravierender Sicherheitsmängel und dem Druck der Bevölkerung hatte man nach der atomaren Katastrophe von Fukushima alle 48 Atomreaktoren des Landes vorläufig abgeschaltet und in den letzten zwei Jahren Sicherheitsprüfungen unterzogen, hieß es weiter. Nun sollen die ersten Reaktoren wieder hochgefahren werden. Die große Mehrheit der Bevölkerung sei laut Umfragen allerdings weiterhin gegen eine Rückkehr zur Atomkraft, erklärte IPPNW.

Zurück zur »zivilen« Atomkraftnutzung

In teils bewegenden Veranstaltungen erinnerten viele Japaner und Japanerinnen in den vergangenen Tagen an die US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Gleichzeitig kehrt das Land vier Jahre nach dem GAU im AKW Fukushima zur »zivilen« Atomkraftnutzung zurück. Der erste Block des im Süden Japans gelegenen Atomkraftwerks Sendai sollte am Dienstag hochgefahren werden, wie der Betreiber Kyushu Electric Power im Vorfeld ankündigte. Die Verbindung des Reaktors mit dem Stromnetz ist für Freitag geplant, im September dieses Jahres soll das Kraftwerk seine volle Kapazität erreichen. Zum Ende desselben Monats ist die Wiederinbetriebnahme des Reaktorblocks Sendai 2 vorgesehen.

Bereits im November des vergangenen Jahres hatte der Gouverneur der Präfektur Kagoshima, Yuichiro Ito, die grundsätzliche Erlaubnis für das Wiederanfahren des Atomkraftwerks erteilt. Vor der Genehmigung seien »verschiedene Situationen umfassend durchgespielt« worden, sagte er. Auch die Atomaufsichtsbehörde NRA und das Regionalparlament gaben gegen eigentlich selbstverständliche Auflagen ihr Einverständnis - unter anderem gibt es für das Kraftwerk nun einen Notfallplan für Brände, Überflutungen oder andere Naturkatastrophen. Nach NRA-Angaben haben Gutachter auch festgestellt, dass schwere Unfälle wie in Fukushima in Sendai nicht vorkommen können. Gleichwohl musste NRA-Chef Shunichi Tanaka kürzlich zugeben: »Wir können niemals sagen, dass überhaupt kein Risiko besteht«.

Eine letzte Hürde nahm der Betreiber im April: Ein Gericht wies den Antrag von Anwohnern ab, das Hochfahren der beiden Reaktoren zu stoppen. Hunderte wütende Atomkraftgegner demonstrierten am Montag vor dem AKW. Sie werfen dem Betreiber und den Behörden vor, sie hätten unklar gelassen, wie sie im Falle eines ähnlichen Unfalls wie in Fukushima schnell Zehntausende Anwohner evakuieren würden.

Das AKW Sendai liegt am gleichnamigen Fluss Sendai in Kagoshima, etwa 1000 Kilometer von der Hauptstadt Tokio entfernt. Der Komplex auf der Insel Kyushu hat eine Größe von rund 1,5 Quadratkilometern. Die von der Firma Mitsubishi gebauten Druckwasserreaktoren haben jeweils eine elektrische Nettoleistung von 846 Megawatt. Ein weiterer Block mit einer fast doppelt so großen Leistung war vor Beginn der Katastrophe von Fukushima in Planung, dieses Vorhaben wird offenbar aber derzeit nicht weiter verfolgt.

Nur etwa 50 Kilometer von dem AKW entfernt ist der Vulkan Sakurajima aktiv. Die Vorschriften der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) sehen einen Mindestabstand von 160 Kilometern zu Vulkanen vor, deshalb hätte der Bau des AKW im Jahr 1979 eigentlich gar nicht erst beginnen dürfen. Zudem gibt es in der Region immer wieder starke Erdbeben. 220 000 Menschen leben innerhalb eines Radius von 30 Kilometern um das Kraftwerk.

Das AKW Sendai war im Frühjahr 2011 nach dem Fukushima-Unfall abgeschaltet worden. Direkt betraf die Katastrophe vier von sechs Blöcken des AKW Fukushima-Daiichi, in drei Reaktoren kam es zu Kernschmelzen, dem sogenannten Super-GAU. Gewaltige Mengen Radioaktivität wurden freigesetzt und kontaminierten Luft, Böden, Lebensmittel und das Meer. Etwa 150 000 Menschen mussten das Gebiet vorübergehend oder dauerhaft verlassen, Hunderttausende in landwirtschaftlichen Betrieben zurückgelassene Tiere verendeten.

Nach der Katastrophe stieg die Skepsis in der japanischen Bevölkerung gegenüber der Atomenergie. Die Regierung in Tokio verfügte die Stilllegung aller 17 Atomkraftwerke mit insgesamt 54 Reaktorblöcken und beschloss einen schrittweisen Atomausstieg aus der Atomenergie bis spätestens 2040, schränkte diese Ankündigung unter dem Druck der Stromkonzerne aber schon bald wieder ein.

Während derzeit nach verschiedenen Umfragen immer noch rund 55 der Japaner und Japanerinnen die Rückkehr zur Atomenergie ablehnen, hat Premierminister Abe Shinzo angekündigt, dass in den kommenden Monaten ein großer Teil der abgeschalteten Atomkraftwerke wieder ans Netz gehen soll. Der Anteil der Atomenergie an der Stromversorgung werde bis zum Jahr 2030 wieder auf rund 25 Prozent steigen, so Abe. Vor dem Fukushima-Unfall waren es mehr als 30 Prozent. Mit dem Anfahren des Reaktors 1 in Sendai werden noch 24 weitere Reaktoren von der Aufsichtsbehörde NRA überprüft.

Bei den Grünen im Bundestag stößt das Wiederanfahren des AKW Sendai auf scharfe Kritik: Obwohl die Fukushima-Folgen noch lange nicht bewältigt seien, müssten sich die Menschen vor Ort erneut der Gefahr eines Atomunfalls stellen, sagt die Atomexpertin und Vorsitzende der deutsch-japanischen Parlamentariergruppe, Sylvia Kotting-Uhl. Dabei sei Japan für eine nachhaltige Energiewende bestens gerüstet. Durch intensive Sonneneinstrahlung, viele windige Küsten und vielfältige Geothermiechancen gebe es dort viel bessere Möglichkeiten für erneuerbare Energien als in den meisten europäischen Ländern. Die Regierung Abe solle diese große Chance für Japan ergreifen, anstatt die Bevölkerung weiterhin dem atomaren Risiko auszusetzen, das im Erdbebenland Japan »immer übergroß« sein wird.

An der falschen Entscheidung der japanischen Regierung trägt nach Ansicht Kotting-Uhls auch die deutsche Bundesregierung eine Mitschuld, weil sie die Chancen der erneuerbaren Energien schlecht rede, anstatt in der ganzen Welt für Atomausstieg und Energiewende zu werben. Mit Agenturen