Vom Schritt- zum Trittmacher

»Places & Traces«: Rikscha-Tour zu Berliner Krisenorten eröffnet alternative Perspektiven auf das Stadtzentrum

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Tanzcompagnie MS Schrittmacher fährt mit der Rikscha nicht nur das Rote Rathaus, die Staatsopern-Baustelle oder die Schuldenuhr beim Bund der Steuerzahler an, 
sondern auch einen Mülleimer am Gendarmenmarkt.

Die Krisen des Zentrums sind anders geartet als die in der Peripherie. Darauf macht die Rikscha-Tour »Places & Traces« der Tanzcompagnie MS Schrittmacher aufmerksam. Natürlich hätte die Truppe auch soziale Brennpunkte ansteuern können, Dealerhochburgen in Kreuzberg etwa, entmietete Häuser in Neukölln und Wedding oder Mord-Tatorte allüberall. Beispiele für all das ließen sich sogar in Berlin-Mitte finden.

Der Choreograf Martin Stiefermann suchte sich aber lieber Orte aus, die symptomatisch sind für das Versagen von Politik, Verwaltung und Unternehmertum. Da gibt es in Mitte einiges zu sehen. Das Rote Rathaus etwa. Stiefermann bewegt selbst eine Rikscha vom Alexanderplatz dort hin. Auf dem Video zum Ort, das man sich in der Rikscha anschauen kann, prallt der Performer mit Fliegerkappe auf dem Kopf und ausgebreiteten Armen immer wieder gegen die roten Ziegel des Rathauses, bis er schließlich die Wand herabsinkt. Ein Sinnbild für die Flughafenbaupläne der Rathausinsassen.

Auszüge aus einem Interview mit Martin Delius, dem Vorsitzenden des BER-Untersuchungsausschusses im Abgeordnetenhaus, bringen auch manch vergessenes Detail des Planungsdesasters wieder in Erinnerung. Etwa die Tatsache, dass ursprünglich gar keine Landungen des Riesen-Airbusses A 380 geplant waren, dann nachjustiert wurde, obgleich keine Berlin anfliegende Airline je die Absicht geäußert hatte, den Riesenvogel dort regelmäßig einsetzen zu wollen, und schließlich Flughafenmanager Schwarz den Platz, der jetzt nicht mehr zur Abfertigung von A 380-Passagieren gebraucht würde, für eine Shopping Mall umrüsten wollte. Kein Wunder also, dass das Ding niemals fertig wird - und wie Delius darstellt, allein für die gegenwärtige Aufrechterhaltung des Nichtbetriebs monatlich zwischen 16 und 35 Millionen Euro verschlingt.

Das mag viel erscheinen. Es ist aber wenig, wenn man zur nächsten Planungsdesaster-Baustelle fährt. Die Rekonstruierung der Staatsoper kostet schließlich - nach gegenwärtigem Stand - »nur« 160 Millionen Euro mehr als ursprünglich angesetzt. Ein gutes halbes Jahr alle Lichter aus am Flughafen und Moratorium der Gehaltsauszahlung für Flughafenmanager und Personal - nicht für die Bauarbeiten, das sind extra Kosten - würde dazu führen, dass der verteuerte Umbau bereits abbezahlt wäre. Eine verlockende Idee.

Als die Rikscha gegenüber der Staatsoper hält, macht Stiefermann weitere charmante Vergleiche. Die Mehrkosten von 160 Millionen Euro entsprechen 1 797 753 Repertoiretickets der teuersten Kategorie für die Oper. Umgekehrt könnte die Oper mit diesem Betrag den Berlinern und Besuchern ihr Programm für ungefähr 14 Jahre kostenlos zur Verfügung stellen. Bei Einhaltung der Honoraruntergrenze könnten 11 622 freie Künstler von diesem Betrag ein Jahr leben.

Tja, im aktuellen Berlin fließt diese Summe in Beton. Und auf dem Video sieht man die Performer zu Klängen von Puccinis Verschwender-Oper »Manon Lescaut« aufgewirbelten Strömen von Papiergeld hinterherjagen. Johanna Lemke, die Manon dieser Szene, behält auf dem benachbarten Schlossplatz ihr teures Kleid gleich an. Dort sieht man sie im Sand mit Förmchen spielen, eine feste Burg bauen und wieder einreißen und schließlich sehr viel Geld im märkischen Sand verbuddeln. Dies ist das reizvollste der insgesamt acht Videos für die unterschiedlichen Stationen.

Angefahren werden auch die Schuldenuhr am Gebäude des Bundes der Steuerzahler (165 Euro neue Schulden durch Zinsendienst pro Sekunde!), der Alexanderplatz, der als einstiger Demonstrations- und Revolutionsort zum Konsumgelände mutiert ist, Pariser Platz und Reichstagsgebäude sowie ein Mülleimer in Sichtweite des Gendarmenmarkts. Mit ihm kommt doch noch etwas Sozialkritik in die Tour. Denn Text und Video widmen sich den Pfandflaschensammlern. Wie zur Bestätigung der Tour macht ein Mann, dessen Vollbart nicht die in Berlin übliche Hipsterpflege aufweist, sondern eher an Rübezahl erinnert, Halt an dieser Ecke und mustert den Inhalt seiner bereits arg ramponierten Plastiktüten.

Die Fahrt im Schritttempo durch die Stadtmitte schärft den Blick für Dinge, die man sonst kaum bemerkt. Man sieht, dass die Betreiber des Französischen Doms offenbar nur einen Werbetat für Schwarzkleber haben. Wiederholt trifft man Menschen, die Laternenmasten mit Hinweisen auf Chopinkonzerte bepflastern. Man trifft auf Amerikaner, die ganz verblüfft über die gerade gemachte Erkenntnis sind, dass es Fahrradspuren mal auf dem Asphalt und mal auf dem Bürgersteig gibt. Man entdeckt, dass es die Hütchenspieler vom Alex auf die Gertraudenbrücke verschlagen hat und wird mit der Frage konfrontiert, ob die vielen Kleinverdienstmöglichkeiten, die sich dem Auge bieten - Leierkastenmann, Rikschafahrer, Fotomodell als preußischer Grenadier - ein Zeichen für eine offenere Gesellschaft oder nicht doch ein Hinweis auf Not, Verarmung und zunehmende Verzweiflung sind.

Die Rikschatour »Places & Traces« bietet keine spektakulären Erkenntnisse. Aber Berliner wie Touristen nehmen das Stadtzentrum doch für kurze Zeit aus einer anderen Perspektive wahr.

Bis 1. Oktober, Mi-So, jeweils 15, 16.30, 18.30, 20 Uhr und nach Vereinbarung. Start Reichstag oder Alexanderplatz, Telefonische Information und Reservierung unter: 0170 / 506 27 44.

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