Die Seele des Anfangs

Der Aufbau Verlag verkörpert ein Stück Deutschland seit 1945, mit allem, was dazu gehört

  • Michael Hametner
  • Lesedauer: 8 Min.

Wir feiern Jubiläen, was das Zeug hält! Jetzt reckt der Aufbau Verlag (ja, ja, neuerdings ohne Bindestrich) die Siebzig in die Höhe - nicht fünfzig, noch nicht fünfundsiebzig und erst recht nicht hundert: siebzig! Ist Medienrummel doch damit ohne Einsatz des schmalen Werbeetats kostenlos zu bekommen. Wer bräuchte solchen Rummel in dieser Zeit nicht dringender als ein Buch produzierendes Unternehmen?

Aufbau hat ein gutes Programm im Jubiläumsjahr, das noch einmal den Geist des Gründungsjahrs riechen lässt: Mit dem Roman »Mein Leutnant« des russisch-sowjetischen Altmeisters Daniil Granin und mit Theodor Plieviers Roman »Stalingrad« nähert man sich den Wurzeln. Mit dem Revolutionstagebuch »Man möchte immer weinen und lachen in einem« von 1919 von Victor Klemperer gibt’s Aussichten, nah an die große Klemperer-Erfolgswelle Mitte der 90er Jahre zu kommen. Mit einem neuen Roman des Schweizers Hansjörg Schertenleib gibt’s vielleicht einen Feuilletonerfolg - oder mit Harald Martensteins und Tom Peuckerts Geschichtsfiktion à la Thomas Brussig vom Erdöl-Fund, der 1989 die DDR überleben lässt. Und mit Landolf Scherzers »Der Rote« geht’s mutig ran an deutsche Gegenwart, nämlich in Nahperspektive an den ersten Ministerpräsidenten der Linken in Deutschland (»Hundert Tage Regierung Bodo Ramelow«). Dazu eine Biografie des Schauspielers Curd Jürgens und die Familiengeschichte der Klavierbauer-Dynastie Bechstein.

Eines indes ist beim Nachdenken über Aufbau heute und gestern unmöglich - die Annahme, dass es sich um ein und denselben Verlag handelte. So wie es nicht ein und dasselbe Deutschland ist, das geteilte und das seit 1990 vereinte. Aufbau verkörpert ein Stück Deutschland seit 1945. Mit allem, was dazu gehört: Teilung und Kalter Krieg, Zensur und Bespitzelung, Volksbildungsvisionen und Verdummungsstrategien, Boykotte und beinharte Konkurrenz, einbrechender Kapitalismus und Arbeitskräfte-»Freisetzungen«, potenzierte Unterhaltungsambitionen und Beharren auf Traditionen.

Wie Berlin im Mai 1945 ausgesehen hat, weiß der am Dokumentarfilm geschulte Blick. Dass man in diesen Tagen den Plan fasste, einen Verlag zu gründen, liegt auf der Hand, aber Visionär musste man schon sein. Es waren der Schriftsteller, baldige Kulturbundchef und spätere Kulturminister Johannes R. Becher, der Journalist Heinz Willmann, der Volkswirt Klaus Gysi und der Verlagskaufmann Otto Schiele. Die Gründung entsprang höchstens am Rande dem Gedanken an ein Unternehmen zum Geldverdienen. Es ging um eine neue Kultur, darum, den zu Staub und Asche gewordenen Weltbildern in den Köpfen etwas entgegenzustellen. Die ersten Geschäftsführer des am 16. August 1945 gegründeten Verlags waren Bücher-Praktiker. Kurt Wilhelm und Otto Schiele, der eine Vertreter, der andere Hersteller und Prokurist, kamen vom Otto Elser Verlag in Berlin, der gleich nach dem Krieg noch ohne Lizenz dastand. Mit dem Kulturbund zur Erneuerung Deutschlands besaß man die wichtigste Lizenz (die juristische gab’s von der Sowjetischen Militäradministration): eben die zur geistigen Erneuerung.

Das Programm: Sammlungsbewegung für Autoren aus dem Exil (ohne ein Emigrantenverlag werden zu wollen), für Autoren, die in Deutschland geblieben waren (ohne sich kompromittiert zu haben, was bei Gerhart Hauptmann, den Becher persönlich warb, schon gar nicht so eindeutig war), für in ihrem humanen Geist unanfechtbare Weltliteratur und das deutsche Literaturerbe seit Aufklärung und Klassik.

Bücher von Becher, Georg Lukács, Max Herrmann Neiße, Theodor Plievier und Heinrich Heine erschienen im Startjahr. Bis Ende 1945 waren zwölf Titel in 264 000 Exemplaren produziert. Ein Jahr später - Anna Seghers, Hans Fallada und Friedrich Wolf, Heinrich Mann, Maxim Gorki und Lew Tolstoi kommen als Autoren dazu - sind es bereits 62 Erstauflagen in 1,5 Millionen Exemplaren. Ein stürmischer Anfang mit wenig Papier und wenigen arbeitsfähigen Druckereien.

Dass man am Beispiel von Aufbau DDR-Geschichte erzählen kann, liegt auf der Hand. Mal drückten die Sowjets und später der Literatur-Geschmack Ulbrichts Titel ins Programm. Öfter gelangen dem Verlag Entdeckungen, mal wurde man zurückgepfiffen, um bei der Autorenwahl genug gesamtdeutsch zu sein (bis 1953 die Parole), mal überlisteten die Lektoren die Zensur, mal erlagen sie ihr. Besonders produktiv in den frühen Jahren war die Zeit zwischen 1953 und 1956. Sie verdankt sich dem Einsatz von Verlagsleiter Walter Janka und dem allgemeinen politischen Klima nach Stalins Tod.

Janka holt den Philosophen Wolfgang Harich ins Boot. Der setzt sich sofort daran, Hegels von »Marxisten« skeptisch gelesene »Ästhetik« zu edieren. Aufbau macht Bücher von Thomas Mann und Hermann Hesse, ohne von S. Fischer oder Suhrkamp die Rechte zu besitzen, und einigt sich auf Abgeltung der nichtgezahlten Autoren- und Lizenzhonorare durch kostenlos ausgeführte Druckaufträge. Sartre und Hemingway erscheinen 1956. Dann aber war erst mal Schluss. Harich wurde Ende November 1956 verhaftet, Janka Anfang Dezember . Ulbricht hatte Angst, dass die Stalin-Enthüllungen durch Chruschtschow und der Ungarn-Aufstand Reformer seines DDR-Sozialismus herauslocken könnten. Das taten sie auch - Janka entwickelte ein Papier gegen die Zensur.

Dass Klaus Gysi (Vater von Gregor), der Janka auf dem Posten des Verlagsleiters folgte, mal mehr Courage zeigte und mal weniger, betraf auch seine Nachfolger zu DDR-Zeiten. Doch die Geschichte des Verlags nur als Staatsgeschichte zu erzählen, wird ihm nicht gerecht. Denn die Geschichte der Bücher, die hier gemacht worden sind, ist auch die Geschichte der jeweiligen Programmleiter in den Bereichen Exil, internationale Literatur und DDR-Belletristik, der in Spitzenzeiten 60 Lektoren, der erstklassigen Übersetzer und Buchgestalter.

1959 beginnt die Ausgabe von Lion Feuchtwangers »Gesammelten Werken«. Es startet die »Berliner Ausgabe« von Goethe. 1962 erscheinen die ersten Bände der Bibliothek der Weltliteratur. Gabriel García Márquez wird für die deutschen Leser entdeckt. 1971 wird die Reihe »Edition Neue Texte« begonnen, der in dieser Reihe erschienene Band »Du« mit Liebesgedichten von Heinz Kahlau wird 138 000 Mal verkauft. Der Verlag kämpft um seine Autoren, die 1976 gegen die Ausbürgerung Biermanns protestierten und die DDR verließen. Ab 1980 erscheint eine 20-bändige Dostojewski-Ausgabe. Nach Goethe bekommt auch Schiller seine »Berliner-Ausgabe«.

Elmar Faber (Verlagsleiter ab 1983) lässt 1984 Christoph Heins »Horns Ende« ohne Genehmigung drucken und gründet 1988 »Aufbau - außer der Reihe« für junge kritische Autoren. Von Fritz Rudolf Fries erscheint 1989, 23 Jahre verspätet, sein großer Erstling »Der Weg nach Oobliadooh«, von Uwe Johnson immerhin ein erster Auswahlband »Eine Reise wegwohin«. - Alles nur Stichworte. Dass die Werkausgaben lebender und klassischer Autoren editorisch beispielhaft waren, die Übersetzungen so qualitätvoll, dass Westverlage sie ankauften, gehört dazu.

Aufbau 1990: Plötzlich keine abgegrenzten Vertriebsgebiete mehr, viele Bücher doppelt auf dem Markt, manche Rechte in zwei Verlagshänden. Harte Einschnitte bei den Mitarbeiterzahlen, Rechtsunsicherheiten bis zur Eigentumsfrage. Die Marktwirtschaft, der man sich stellt, macht aus Aufbau einen anderen Verlag. Einen neuen nicht. Aber von Verlagstraditionen ist jetzt nur noch zu reden, wenn Bücher Erfolg haben. Für Traditionen allein lässt sich nichts kaufen. Mitarbeiter im Lektorat, die schon in den 80er Jahren viel »weggetragen« haben, bleiben und tragen weiter mit Lust die Last des Büchermachens: Almut Giesecke, Angela Drescher, Gotthard Erler.

1991 überschlagen sich die Ereignisse. Bernd Lunkewitz, Frankfurter Immobilien-Guru, kauft den Verlag - er muss ihn später ein zweites Mal kaufen: vom Kulturbund. Mitten in die Verhandlungen wirft die Treuhand eine Bombe (eine mutwillige Störung, die Treuhand besaß die Akten dazu seit langem): die »Plusauflagen«. Ost-Verlage hatten für ihre West-Lizenzen mehr Bücher gedruckt, als erlaubt. Dass sie als ehrenwerte Buchhalter die Extraeinnahmen notiert und an den SED-Apparat abgeführt hatten, rettet sie in letzter Minute.

Ein Albtraum. Aber der Verlag steht das Störfeuer durch. Strittmatters Trilogie »Der Laden« wird zum Verkaufserfolg, Victor Klemperer, der scharfsinnigste Chronist von NS-Zeit und Nachkriegsjahren, macht durch eine Millionen-Gesamtauflage den Verlag stark. »Die Päpstin« von Donna W. Cross zeigt mit am Ende 4 Millionen verkauften Exemplaren, dass das Engagement bei guter Unterhaltung nicht glücklos war.

Hätte Lunkewitz sich nicht in Rechtsstreitigkeiten aufgerieben - er kämpfte in den Jahren »roter Zahlen« um Extra-Geld für Aufbau -, es hätte mit ihm als Eigner und Verleger weitergehen können. Doch dann kam am 30. Mai 2008 wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Nachricht vom Antrag auf Insolvenz. Er entsprang dem Kalkül des Geschäftsmanns Lunkewitz. Dieser Tag war für das Editionshaus kritischer als der 3. Oktober 1990. Hätte der Insolvenzverwalter nicht bereits am 15. Oktober 2008 verkünden können, dass der Immobilieninvestor Matthias Koch die Aufbau-Verlagsgruppe kauft, wer weiß, ob heute ein Jubiläum zu feiern wäre.

Koch, Deutsch- und Französischlehrer und aus der Beteiligung an einem Familienunternehmen zu Geld gekommen, kauft zu Aufbau 2012 mit Blumenbar einen Verlag für jüngere Leser hinzu, nimmt die »Andere Bibliothek« unter seinem neuen Dach am Moritzplatz in Berlin-Kreuzberg auf, gründet ein Label für Hörbücher und E-Books. Das scheint im Moment alles noch etwas unübersichtlich, aber wo Bewegung ist, ist ein Ziel: Aufbau in der Mitte des Unternehmens als mittelständischen Verlag zu sichern.

Unter dem neuen verlegerischen Leiter Gunnar Cynybulk (erst seit dem Vorjahr im Amt) steht ein stattliches Programm im Jubiläumsjahr, das etwas von der Seele des Anfangs besitzt. Schwachstelle seit dem Verlust von Christa Wolf und Christoph Hein an Suhrkamp, später noch von Thomas Lehr an Hanser: die deutsche Gegenwartsliteratur.

Wo Aufbau 2015 steht, ist zu sehen. Wo Aufbau stehen wird, wenn die 75 hochzuhalten ist, weiß man nicht. Es ist so viel Unsicherheit beim Büchermachen in die deutschen Verlage eingezogen wie nie. Man unterlässt Prognosen besser und geht zur Feier dessen, was ist.

Zum Jubiläum macht Aufbau sich selbst ein Geschenk: Carsten Wurms »Gestern - Heute - Aufbau«, eine umfassende Verlagsgeschichte (256 S., br., 12 €.)

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