nd-aktuell.de / 17.08.2015 / Berlin

Abgefahrene Autoproduktion

Das Mercedes-Benz-Werk Ludwigsfelde ist nah dran an der intelligenten Fabrik der Zukunft

Andreas Fritsche
Fahrerlose Wagen bringen beim Automobilhersteller Mercedes Benz in Ludwigsfelde die benötigten Teile ans Fließband. Das Stichwort lautet: Industrie 4.0.

Das Berliner Umland wird von Städten und Gemeinden dominiert, in denen Menschen wohnen, die zur Arbeit nach Berlin pendeln. Es gibt aber auch ein paar Ausnahmen, Orte, in denen namhafte Industriebetriebe die Wende auf die eine oder andere Weise überlebt haben. Keine Stadt steht beispielhafter dafür als Ludwigsfelde im Landkreis Teltow-Fläming. Hier befindet sich neben anderen Industriebetrieben einer der Standorte des Autoherstellers Mercedes-Benz. Der übernahm das Gelände, auf dem zu DDR-Zeiten die legendären Lastwagen W 50 und L 60 sowie vorher die Motorroller Pitty, Wiesel, Berlin und Troll 1 gebaut worden sind. W 50-Löschfahrzeuge sind bei vielen Freiwilligen Feuerwehren in Ostdeutschland bis heute im Dienst. In Vietnam gehören einstmals dorthin gelieferte Lastwagen des Typs W 50 nach wie vor zum Straßenbild.

Heute beschäftigt der Daimler-Konzern in Ludwigsfelde 2000 Mitarbeiter und ist damit einer der größten Industriearbeitgeber in Brandenburg. Über einige von ihnen, die bereits vor der Wende in dem Werk gearbeitet hatten, drehte Regisseur Andreas Dresen einen Dokumentarfilm, den das rbb-Fernsehen 2010 zum 20-jährigen Bestehen des Landes Brandenburg ausstrahlte.

Täglich laufen in dem Werk im Industriepark Ost 200 Transporter des Typs Sprinter vom Band. In Europa ist es der einzige Daimler-Standort, an dem die offenen Varianten produziert werden - die Pritschenwagen und die Fahrgestelle für unterschiedliche Aufbauten, zum Beispiel für Wohnmobile.

In der riesigen Montagehalle versehen mehrere Arbeiter die Fahrzeugtüren mit Fensterscheiben. Ein kleines, automatisch gesteuertes Elektrofahrzeug bringt Nachschub. Summend stoppt es präzise neben einem Regal. Auf einem Anhänger klappen Schienen hoch, das benötigte Material rollt herüber auf das Regal. Auf diese Weise werden jetzt fast alle Einzelteile ans Fließband befördert - immer genau dann, wenn sie dort gebraucht werden. Denn es gibt 350 Kombinationsmöglichkeiten für den Sprinter, die 400 Farbtöne noch gar nicht mitgezählt.

Geliefert wird der Sprinter je nach Kundenwunsch beispielsweise mit zusätzlichen Beifahrersitzen, stärkeren Motoren oder einem verlängerten Achsstand. Es variieren auch das Gewicht und sogar die Position des Lenkrads. Denn für den britischen Markt wird hier ebenfalls produziert. Für den Linksverkehr befindet sich das Steuer rechts. Das hat zur Folge, dass eine ganze Reihe von Einzelteilen anders beschaffen sein muss und anders eingebaut wird.

Mal kommt auf dem Fließband zwischendurch ein Fahrzeuge für den Linksverkehr, mal eins mit zwei oder eins mit vier Türen. Durch ein intelligentes System, zu dem die führerlosen Elektrofahrzeuge gehören, wird das jeweils benötigte Zubehör ans Band geschafft. 2012 wurde mit der Umstellung begonnen. Früher waren die Gänge in der Halle zugestellt mit Regalen und Gitterkörben, in denen alles bereitlag, was gebraucht wurde. Die Montagearbeiter mussten sich hindurchzwängen und das gerade benötigte Teil anhand einer Nummer finden und holen.

Jede Menge Gabelstapler seien früher herumgekurvt, erinnert sich Michael Bauer. Doch wenn es Unfälle gebe mit Gabelstaplern, dann seien die fast immer schwerwiegend. Schon aus Gründen des Arbeitsschutzes sei es deshalb vernünftig gewesen, die Stapler weitgehend aus der Montagehalle zu verbannen. Bis Ende Mai 2015 war Michael Bauer Werksleiter in Ludwigsfelde. Er hat die Umstellung begleitet und berichtet nun davon, wie die Arbeiter einbezogen wurden in die Entwicklung der neuen Transportsysteme, die hier selbst projektiert und gebaut werden. Die Leute wüssten schließlich am besten, was sie benötigen und wie es am praktischsten für sie ist, so Bauer.

In einem Teil der Halle, in dem die Teile auf die Anhänger der führerlosen Fahrzeuge gepackt werden, laufen die Kollegen nun nur noch hinterher. Lampen leuchten auf und zeigen ihnen, in welche Kiste sie jeweils greifen müssen. Früher war auch hier umständliches Suchen angesagt. Je zwei starke Männer mussten schwere Rollregale durch die Gänge ziehen und schieben.

»Ich hätte vor drei Jahren nicht gedacht, dass wir soweit kommen«, schwärmt Bauer. »Doch es geht weiter«, kündigt er an. Roboter könnten künftig einige der Montagearbeiten übernehmen. Durch die bisher geleistete Modernisierung verkürzten sich die Fertigungszeiten um zehn Prozent. Theoretisch schafft nun weniger Personal einen höheren Produktionsausstoß. Praktisch sind aber beispielsweise die nun überflüssigen Gabelstaplerfahrer alle noch da, versichert Ex-Werksleiter Bauer. Denn nach einer Absatzdelle nach der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2010 konnte die Zahl der vom Band gelaufenen Fahrzeuge wieder erhöht werden - von 37 810 im Jahr 2012 auf 48 200 im Jahr 2014.

Die Umstellung steht unter der Überschrift »intelligente Fabrik«. Was in Ludwigsfelde getestet wurde, was sich hier bewährte, soll etwa beim Neubau einer Mercedesfabrik in Charleston (USA) berücksichtigt werden, erklärt der neue Betriebsleiter Sebastian Streuff stolz. Für Ludwigsfelde hat sich der große Sprung nach vorn gelohnt. Die nächste Generation des Sprinters soll wieder in Deutschland gebaut werden. Allein in Ludwigsfelde werden dafür 150 Millionen Euro in die Modernisierung von Rohbau, Lackierung und Endmontage gesteckt.

»Das ist ein gutes Zeichen für die Belegschaft und für die gesamte Region Berlin-Brandenburg«, freut sich Streuff. Ohne die beachtlichen Fortschritte bei der intelligenten Fabrik wäre die Investitionsentscheidung vielleicht anders gefallen. Doch nun ist Streuff zuversichtlich: »Wir stehen am Anfang einer langen Reise.«

Das glaubt auch Ulrich Bauer, Professor für Automatisierungstechnik an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU). Auf dem Weltmarkt habe man es mit einer »Komplexitätsspirale« zu tun, mit sehr speziellen Kundenwünschen, die schnell und zuverlässig erfüllt werden müssen. Intelligente Fabriken schaffen und sichern Arbeitsplätze im Hochlohnland Deutschland, zeigt sich der Professor überzeugt. Die Robotik sei ein Steckenpferd der BTU. Die Robotik erspare dem Arbeiter das seit Großvaters Zeiten bekannte Heben, Wegtragen und Absetzen. Das sei auch angesichts des demografischen Wandels mit durchschnittlich älterer Belegschaft wichtig.

Die Stadt Ludwigsfelde am südlichen Berliner Autobahnring zählt 24 579 Einwohner, von denen rund 4000 Männer und Frauen zwischen 50 und 59 Jahre, und weitere 1800 zwischen 60 und 69 Jahre alt sind. Offiziell ist die Einwohnerzahl der Stadt seit 1990 um 10,6 Prozent gestiegen. Berücksichtigt man aber die Eingemeindung umliegender Orte, so sank die Bevölkerungszahl um 2,1 Prozent. Dies ergab eine 2015 veröffentlichte Studie des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle.

Nach Auskunft von Stadtsprecherin Marina Ujlaki konnten für das vergangene Jahr rund 5300 Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe ermittelt werden. Das seien 42 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Kommune. Verglichen mit 1999 erlebte Ludwigsfelde einen Aufschwung. Damals hatte es dort nur 3050 Beschäftigte im verarbeitenden Gewerbe gegeben. Allerdings standen noch Mitte 1990, vor der Wiedervereinigung, allein im IFA-Fahrzeugwerk 8334 Menschen in Lohn und Brot.

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