Die verschollene Filmrolle

Augusto Cruz widmet sich in seinem Roman »Um Mitternacht« dem gleichnamigen Stummfilm

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Großteil aller Stummfilme gilt als verschollen. Mehr als 80 Prozent der vor allem in den 20er Jahren produzierten Streifen existieren weder in Archiven noch in privaten Sammlungen. Entsprechend ranken sich immer wieder Legenden um diese verlorenen Zelluloidstreifen, wie auch um den 1927 entstandenen Stummfilm »Um Mitternacht«. Er gilt als erster Vampirfilm überhaupt. Nur wurde die letzte verbliebene Kopie in den 60er Jahren bei einem Brand im Archiv der MGM Studios zerstört. Der Regisseur Tod Browning machte später mit Bela Lugosi als Dracula-Hauptdarsteller Karriere und avancierte zu einer der wichtigsten Figuren des Horrorfilms im aufstrebenden Hollywood.

Der Geschichte von Brownings verschollenem Frühwerk widmet sich der mexikanische Schriftsteller Augusto Cruz in seinem mitreißenden Debütroman, der ebenfalls den Titel »Um Mitternacht« trägt. Darin schickt er den ehemaligen FBI-Agenten Scott McKenzie auf die Suche nach diesem legendären Film und mitten hinein in ein unglaubliches Abenteuer.

McKenzies Auftraggeber ist der in die Jahre gekommene Sammler Forrest J. Ackerman. Der existierte wirklich und neben seiner Tätigkeit als Autor, Agent und Verleger von Science-Fiction-Literatur sammelte er geradezu obsessiv Filmrequisiten, die er in seinem Haus aufbewahrte, das als Museum der Geschichte des phantastischen Films galt. Die legendäre Ackermansion setzt Augusto Cruz als Einstieg in seinen Roman großartig in Szene. McKenzie geht bei seinen Recherchen verschiedenen Spuren nach, die immer geheimnisvoller und bizarrer werden. Einige Personen, die den Film gesehen haben sollen, werden überfallen oder sogar ermordet. Außerdem trifft er auf vergreiste Stummfilmstars, die mittlerweile in heruntergekommenen Altersheimen oder in mondänen Villen leben. Er wird von einem geheimnisvollen mexikanischen Milliardär entführt, der ebenfalls auf der Suche nach dem Film ist. Und schließlich führt McKenzie ein Hinweis in den mexikanischen Urwald, wo ein spleeniger reicher Engländer vor Jahrzehnten einen surrealistischen Palast erbaute, mit einem Kinosaal und einem Archiv voller verschollener Stummfilme.

Was wie eine Hommage an das Kino der Stummfilmzeit und das frühe Horrorfilmgenre beginnt, wird zu einem komplexen Roman über die Beschäftigung mit Geschichte an sich. Die ist in dem dichten und ausufernden literarischen Universum von Augusto Cruz ein kompliziertes Netzwerk zu lösender Rätsel. Der ehemalige Kriminalist McKenzie arbeitet sich wie ein Archäologe an den Zeitschichten ab, um der Vergangenheit Stück für Stück ihre Geheimnisse zu entreißen. Immer wieder stößt er dabei an seine Grenzen. Auch seine eigene Geschichte als Privatsekretär von Edgar J. Hoover, dem FBI-Chef, und das ungeklärte Verschwinden seiner Ehefrau und seiner Tochter, die seit Jahrzehnten vermisst sind, spielen dabei eine Rolle.

Zwischen den USA und Mexiko angesiedelt, fächert Augusto Cruz ein pointiert erzähltes gesellschaftliches Panorama auf, in dem es auch um Migration, Armut, Gewalt und märchenhaften Reichtum geht. Dabei gelingt es dem 1971 im mexikanischen Tampico geborenen Autor, einen unglaublichen erzählerischen Sog zu erzeugen. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass Augusto Cruz, der angeblich Geschichte bei Subcomandante Marcos studierte, neben seiner Ausbildung für szenisches Schreiben in Los Angeles auch ein Fernstudium als Detektiv absolvierte. Sein Debüt macht jedenfalls Lust auf mehr.

Augusto Cruz: Um Mitternacht. Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Suhrkamp. 392 S., 22,95 €.

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