Das Beleidigungsmonster

Landgericht verhandelte gegen Übeltäter, der ständig Passanten auf der Straße beschimpfte

  • Lesedauer: 3 Min.
Für Fahrgäste, Passanten auf der Straße in Reinickendorf und Wedding war er ein Horror. War er nüchtern, zeigte er sich völlig unauffällig, trank er, spielte er wilde Sau.

Viele hatten mit ihm auf unangenehme Weise zu tun, er beschäftigte ganze Hundertschaften von Polizisten. Er konnte sehr bösartig werden in U-Bahnen oder vor Einkaufszentren. Anders als ein stadtbekannter, streng dreinschauernder und U-Bahn fahrender Zeitgenosse, der im Zug jede Station und die jeweilige Ausstiegsseite ansagt, war mit dem Sonderling Ingo Sch. (45 Jahre) nicht zu spaßen.

Wenn ihm etwas nicht passte, dann überschüttete er plötzlich und unvermittelt auf dem Bahnsteig seinen Nebenmann oder seine Nebenfrau mit einer üblen Schimpfkanonade. Er suchte den Sichtkontakt und wenn sich die Blicke trafen, fühlte der sich provoziert. Fanden die Mitmenschen dann nicht schnell das Weite, griff er zum Bierflaschenhals oder zum Messer. Und jagte ein Flut von Beschimpfungen gegen den vermeintlichen Widersacher. Die Beschwerden gegen Ingo Sch. häuften sich zwischen den Jahren 2011 und 2013. Kaum war eine Anzeige von der Polizei gefertigt, lag auch schon die nächste vor. Wurde dann schließlich Anklage erhoben, so war auch die nicht mehr aktuell, da sich schon wieder neue Fälle angehäuft hatten. Polizei und Justiz wirkte ein wenig ratlos, wegen übler Worte kann man niemanden wegsperren. So stapelten sich die Anklageschriften. Erst beim Amts- und dann bei Landgericht. Bis das Fass irgendwann einmal voll war.

Gestern nun begann der Prozess gegen Ingo Sch. wegen Beleidigung in vielen Fällen. Aus den Stapeln der Anklageschriften wurde eine Antragsschrift. Denn die Staatsanwaltschaft will erreichen, dass der Beschuldigte in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wird. Er sei bei seinen Taten schuldunfähig gewesen, heißt es da. Der Alkohol hat aus dem einstigen Kunstglaser ein Beleidigungsmonster gemacht. Immer wenn er nüchtern war, zeigte er sich als »normaler« Berliner. Unauffällig, still, ohne besondere Kennzeichen. Schüttete er jedoch Bier und Schnaps in sich hinein, wurde er ein völlig anderer Mensch. Dann kannte er sich selbst nicht wieder. Aber die anderen, die ihn inzwischen als Beleidiger auf Straßen und Bahnhöfen wiedererkannten. Alkoholkonsum ist seit 2010 so ziemlich die einzige dauerhafte Beschäftigung für die traurige Gestalt.

Ingo Sch. hat an die einzelnen, ihm vorgeworfenen Taten kaum Erinnerungen, erklärt er dem Gericht. Mal glaubt er, dass er provoziert worden sei, mal habe er das Geschehen sehr abweichend von den Zeugen in seinem Gehirn. Aber es wird wohl so gewesen sein, wenn es die anderen sagen, fügt er resignierend hinzu. Die anderen, das sind vor allem Polizisten, die die Anzeigen aufschrieben, ihn festhielten oder in die Ausnüchterungszelle brachten. Sein Blutalkohol lag stets bei über 1,5 Promille. Die Uniformierten als Zeugen berichteten von einem beeindruckenden Beleidigungskatalog, die der Täter zu bieten hatte. Wenn sie versucht haben, ihn zu beruhigen, wurde er stets noch wilder und schleuderte immer neue Schimpftsunamis gegen die Beamten.

Irgendwann war der Staatsanwaltschaft die Anzeigenflut zu viel, sie ließ den notorischen Beleidiger Anfang Februar festnehmen. Seit März dieses Jahres ist er zur Behandlung im Maßregelvollzug untergebracht. Dort wird er so lange bleiben, bis er von seiner Alkoholsucht geheilt ist. Ingo Sch. ist ein recht einsamer Mensch, ist seinen Schilderungen zu entnehmen. Keine Freunde, keine Arbeit - zusammen mit Alkohol eine teuflische Mischung.

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