nd-aktuell.de / 28.08.2015 / Kultur / Seite 14

Kriminelle Inländer

Andreas Gläser

Als ich elf Jahre alt war, 1976 im Prenzlauer Berg, befanden sich die beiden Brüder aus dem Nachbarhaus, sowie meine Schwester und ich, oft auf Raubzügen. Wir rupften Briefkästen auf. Ich war der Älteste, ein sehr kulanter Anführer, denn ich teilte unsere Beute in gleiche Teile auf. Wenn in einem Brief ein Zehner steckte, gab ich jedem 2 Mark 50, und wenn in einem Brief 20 Mark steckten, auch. Im Konsum mussten wir nicht mehr klauen, weil viele Leute einige Scheinchen mit der Post schickten. Irgendwer hatte in den umliegenden Straßen immer Geburtstag oder Jugendweihe.

Bald zeigten sich die Mieter verärgert über irgendwelche Asozialen, die ersten Anzeigen gegen Unbekannt sollen bei der Polizei eingegangen sein. Unsere Raubzüge absolvierten wir spontan und ohne durchdachte Rückzugspläne. Wir gebärdeten uns als lachende Blitzkrieger, ertasteten in den Hausfluren fachmännisch die Briefe nach beiliegendem Geld und warfen sie, wenn keins drinnen war, zurück in die Kästen, gnädig wie wir waren.

Was? So ein dicker Brief, vom Soldaten an die Freundin, aber kein Geld drinnen? Konnte das Liebe sein?

Mitunter ließen wir die zerfetzten Briefe die Straße runterflattern. Einige Mieter keiften uns hinterher, sie würden unsere Eltern kennen. Irgendwann packte eine forsche Frau den kleineren der beiden Brüder am Schlafittchen. Wir waren nicht dreist genug für eine Gefangenenbefreiung. In ihrer Küche sollten wir auf die Polizei warten, was sich sehr lange hinzog, denn die Frau hatte kein Telefon. Sollte die Polizei zufällig vorbeikommen? Nein, sagte sie. Die käme manchmal unangemeldet wegen ihrem Sohn. Als ihr Sohn von der Schule kam, sollte er die Polizei holen, aber er hielt das für würdelose Selbststellerei.

Irgendwann lieferte uns das Mutter-Sohn-Gespann auf dem Revier ab. Wir betonten, dass das wirklich unser erster Raubzug gewesen sei. Die 200 aufgebrochenen Kästen im Kiez konnten wir uns nicht erklären. Pionierehrenwort. Wir wurden frei gelassen.

Eines sonnigen Nachmittags, als wir mit einigen müden Moneten zurück in den heimatlichen Hausflur schlenderten, sammelte uns ein fremder Vater ein. Die Polizei rückte keine fünf Minuten später an, wir wurden auf den Sitzen eines Toni-Wagens platziert. Die Passanten zeigten mit den Fingern auf uns, ich kuckte möglichst unbeteiligt, doch meine Schwester heulte verräterisch.

Auf dem Revier war es noch human, aber zu Hause zerbrach unser Vater während der Diskussion einen wertvollen Kleiderbügel. Alle gesellschaftlichen Kräfte wollten sich an uns rächen. Von der Schuldirektorin wurde uns mitgeteilt, dass wir einen strengen Tadel bekommen würden, ausgesprochen und herausposaunt beim nächsten Schulappell. Ihrer klaren Ansage folgte unsere vorhersehbare Abwesenheit.