Die Startnummer als Kainsmal

An diesem Mittwoch wird der sehr besondere Maler Hans Ticha 75 Jahre alt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Alle Dinge folgen einem Grundgesetz: Sie kehren sich irgendwann um. Märchen nicht ausgenommen. Etwa Peter Schlehmil. Nicht mehr er verkauft seinen Schatten - der Schatten hat seinen Körper verkauft. Es scheint, dass wir uns mehr und mehr auflösen. Und zwar in den Erscheinungsformen digitaler, also nebulöser Welt. Wie Gefangene im offenen Vollzug sind wir Wesen in einem offenen Austausch, dem aber jede Körperlichkeit fremd, plump, allzu begrenzt vorkommen muss. Alles um uns ist hochauflösend - löst sich so auch Existenz auf? Segmentierung vertreibt den festen kompletten Umriss, es herrscht eine Art Dunstkörperschaft zwischen den Menschen. Was unter die Haut ging, geht nunmehr ins Netz.

Das sind Gedanken, die sich inzwischen bei jeder Gelegenheit einstellen. Etwa, wenn man im Straßenverkehr auf alltagsregelnde - Piktogramme trifft. Kühle, kindlich einfache Funktionsbefehle und Verhaltensgebote; der Mensch ein Kugelkopf, die Körper eine strichfette Vergröberung, reduziert auf Struktur - aber inmitten besagter allgemeiner Konturenlosigkeit und Entpersönlichung wirken diese Zeichen dennoch, so abstrakt sie auch sind, wie letzte Aufruhrpartikel des Leibhaftigen. Geht man jetzt noch einen Schritt weiter, findet man zu den geometrisch inspirierten, von technischer Zeichnung befeuerten Bildern des Malers Hans Ticha: Menschen mit runden Köpfen, hervorgehobene Körperteile, präzis und irritierend abgesetzte Arme wie Beine; Konstruktionen, deren Seelenlosigkeit entweder ins Schwarze trifft - oder täuscht. Weil hinter dem maschinell Anmutenden der Aderlass des Lebendigen aufscheint und der Mensch um Hilfe ruft. Das Dämonische der Verschraubungen ist nicht vom Witz dieser Bilder zu trennen. Die Höhlenmalerei trifft sich mit dem Konstruktivismus zu listigen wie lustigen Experimenten. Vor-Bilder? El Lissitzky, die Bauhausmeister, Henry Moore, Picasso. Vor allem Fernand Léger und dessen Kunst gegen die organische Homogenität und die Kontinuität des Natürlichen.

Wo andere den Dingen den Charakter von Bildwerten geben, verleiht Ticha den Form- und Farbakkorden eines Bildes: Dingcharakter. Diese Malerei ist Akzent, nicht Melodie. Tichas Bildzeichen und Embleme haben körperliche Substanz, es entsteht ein produktiver Austausch zwischen Sinn und Sachlichkeit, Sinnlichkeit und Sache. Des Künstlers Stärke liegt nicht in der komplizierten Analyse, sondern in der einfachen, kraftvollen Synthese. Symmetrie oder Asymmetrie als Fallen, aber auch als Feier - Anlässe nämlich für ein sehr heiteres, aufgeräumtes Spiel der miteinander konkurrierenden Signale. Bilder gegen das Genormte, deren kritische Energie durch manche Zensur in der DDR schlüpfen konnte, weil sie oft »nur« unter Gebrauchsgrafik firmierte. Bei der zehnten und letzten Kunstausstellung 1987/88 war Ticha freilich nicht mehr dabei.

Gebrauchsgrafik? Warum nicht. Mag sein, dass etwas befehdet wird - wichtig ist, dass es dennoch benutzt wird. Des Malers genauer Blick fand auch nach dem Ende der DDR sein Bild-Material im Zivilisations- und Wohlstandskomfort (»Schöner wohnen«, »Wir bieten Ihnen ...«). Ticha gibt jedem Körperteil seine unverwechselbare Lebens- und Wirkungskraft zurück. Es ist dies immer auch eine Wirkungskraft des Anmaßenden, der stupiden Einseitigkeit. Der Arm ein Pflichterfüller, das Bein ein Soldat, der Brustkorb ein Angeber, die lachende Zahnreihe wie ein Stacheldrahtverhau. In der DDR führte das auch zu Bildern, die in der Wohnung des Künstlers aus Vorsichtsgründen bis zum Schluss des Systems gleichsam mit dem Gesicht zur Wand standen. Entlarvende Szenen der hohlen Rituale aus Bruderkuss, Parteiabzeichen-Händedruck und dem Sklavenapplaus für die Selbstbespiegler auf all diesen Präsidien und Ehrentribünen. Überdimensionale Hände, ausladendes Ordensblech, Schwellköpfe des zeremoniellen Schwachsinns, der Stechschritt des blinden Gehorsams, der sich Idealtreue nannte.

Ticha, 1940 in Tetschen-Bodenbach geboren, Lehrer, Student an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee (bei Klemke, Mohr, Wittkugel), wurde in der DDR zum Meister einer Kunst, die Pop-Art und modern-kubistische Montagen ins überzeugend Eigene übertrug - ohne dass der Ostkünstler überhaupt wusste, was sich da im Westen entwickelt hatte. Der Außenseiter schuf großartige Plakate und - im Auftrag renommierten Verlage - lllustrationen für Bücher (»Der Krieg mit den Molchen« von Čapek, »Ehen in Philippsburg« von Walser, Werke von Heine, Ringelnatz, Tucholsky, Shakespeare). In wunderschönen Kinderbüchern offenbarte sich der holzpuppige Wärmeton seiner besonderen Kunst. Erstaunlich, dass seine Leistungssport-Bilder (Ringer, Läufer, Eistänzer, Eishockeyspieler) reibungslos in die Öffentlichkeit gelangten. Das große Identifikationsthema im Osten - bei Ticha sehr früh schon das, was Elfriede Jelinek und Regisseur Einar Schleef später im »Sportstück« auf die Bühne brachten: Sport als Mischung aus durchrhythmisiertem Körperwahn und einem darübergeschmierten Trugbild der Lockerheit. Die Wiederholungsschleifen des Leistungsdrucks: schneller, höher, weiter - so. Muskeln und disziplinierte Ausrichtung als militärisch durchtränkte Zeugnisse einer allseits bejubelten Verletzung menschlichen Eigensinns. Die Startnummer als Kainsmal. Verführbarkeit durch Choreografie. Popanz und Populärkultur - böse und bestechend komisch als Paraden der Gesichtslosigkeit und der Dressur in Szene gesetzt. Hindernisläufer etwa, die blind gegen eine Schranke rennen. Wie gegen eine Mauer. Wie gegen diese eine Mauer.

Gewissermaßen feingezeichneter Grobianismus und derbgemalte Kurvenzartheit. Das Runde dem Eckigen einverleibt. Die Idee der Vollkommenheit, eingesperrt und ausgestellt zwischen Überzeichnungsgittern. Das ist die farbige, satirische, besinnungskräftige Kunst des Hans Ticha, eine Kunst der Typen, die das Leibliche eines Luftballons mit dem kantigen Kurs eines Roboters vereinen. Kunst in einem Zeitalter, das stolz ist auf Maschinen, die denken, und misstrauisch gegenüber Menschen, die das auch versuchen. Ticha, der seit Jahren im Rhein-Main-Gebiet bei Hanau lebt, wird an diesem Mittwoch 75 Jahre alt.

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