nd-aktuell.de / 02.09.2015 / Kommentare / Seite 4

Auf dem Weg ins Abseits

Rudolf Walther über die Rolle Deutschlands in der EU und die Frage, ob Demokratie und Hegemonie vereinbar sind

Rudolf Walther

In der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 21. August verkündete der Politikwissenschaftler Herfried Münkler: »Wir sind der Hegemon.« So wenig »wir« Papst werden wollten, so wenig wollten »wir« Hegemon werden. Beides sind »wir« trotzdem geworden. Und jetzt gelte es - so Münkler -, die der Bundesrepublik »faktisch längst zugefallene Rolle« der »europäischen Zentralmacht« zu übernehmen und »Nord- und Süd-, West- und Osteuropa zusammenzuführen«. Leicht wird das »Führen« für den »Hegemon« nicht: »Die Aufgaben (…) gleichen der Quadratur eines Kreises.« Aber wo es ums Führen geht, kennt Münkler den Weg - ins Abseits.

Unbestreitbar hat die Währungsunion die wirtschaftlichen Standortvorteile Deutschlands gestärkt - wozu auch die »Sozialpartnerschaft«, die gewerkschaftliche Zurückhaltung in der Lohnpolitik und der damit verbundene Aufstieg zum »Exportweltmeister« gehören. Macht das die Bundesrepublik schon zum »Hegemon«, wie die Vulgärökonomie meint? Nicht einmal den von CSU bis Pegida, AfD und NPD geläufigen Hinweis auf Deutschland als »bei weitem größten Nettozahler« in der EU lässt Münkler aus.

Brauchen demokratisch fundierte Gebilde wie die EU überhaupt einen »Hegemon«? Sind »Demokratie« und »Hegemonie« vereinbar? Solche Fragen stellt sich Münkler nicht mehr, sondern verabschiedet die Kernfrage demokratisch legitimierter Souveränität, also die Volkssouveränität, im Handstreich und wendet sich der vordemokratischen Macht- bzw. Hegemoniefrage zu.

Historisch gesehen sind Staaten und Staatenbünde, die von einem Hegemon beherrscht wurden, autokratische Monarchien, bloße Diktaturen oder Imperien. Ein Beispiel ist das deutsche Kaiserreich von 1871, das auf einem Bund deutscher Fürsten beruhte, die die Hegemonie des preußischen Königs in politischer, militärischer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht (zum Teil gegen Bezahlung, zum Teil als Strafe) akzeptierten. Der vom Hegemon Preußen beherrschte Fürstenbund wurde keine 50 Jahre alt und verendete 1918 an inneren Widersprüchen und militärisch-politischer Selbstüberschätzung. Zahlreichen Imperien und ihren Hegemonialmächten vom British Empire über das Zarenreich bis zur Sowjetunion ging es nicht anders.

Die Argumente, die Münkler für seine These von der angeblich zwangsläufigen deutschen Hegemonie in der EU beibringt, sind von geradezu erbärmlicher Dürftigkeit. Zunächst beruft er sich auf den geopolitischen Ladenhüter von der »Macht in der Mitte«. Geografisch liegt die Mitte Europas in der Gegend von Prag, und das sagt über die politische Rolle jener Gegend so wenig aus wie die Insellage eines Staates über seine politisch-militärischen Ziele und Strategien. Aus der Naturtatsache, dass es rund um Inselstaaten nur Wasser gibt, folgt keineswegs notwendig, dass Inselstaaten auch eine für territoriale Eroberungen taugliche Kriegsmarine brauchen. Münkler verliert sich im intellektuellen Sumpf des Irrationalismus von ganz alter Machtmetaphysik und Machtpolitik, wie sie noch das 19. Jahrhundert prägten und verrückterweise als »Realpolitik« ausgegeben wurden, obwohl »Realpolitik« wie »Hegemonie« nie etwas anderes waren als Gewalt erzeugende und Gewalt verharmlosende Ideologien von Machtpolitikern und ihren akademischen Schönrednern.

Richtig finster wird es, wenn Münkler die Gegenwart »erklärt«. Die Disposition der Bundesrepublik zur Hegemonie in der EU leitet er aus der »Populismusresistenz« der deutschen »Wahlbevölkerung« ab. Für die famose »Wahlbevölkerung« existiert die stärkste »Partei« nicht - die Nichtpartei der Nichtwähler. Je nach Wahlakt kommt sie auf bis zu 40 Prozent. Alles populismusresistent? In welcher Welt lebt Münkler?

Momentan brennen fast täglich Flüchtlingsunterkünfte. Pegida, AfD und NPD, CSU-Rhetoriker, asoziale Netzwerke und die verlogene Heuchelei der Springer-Presse haben Konjunktur mit schwarz-rot-gold intonierten Parolen. Teile der Medien befeuern seit Wochen eine einfältige »Völkerwanderungs«- und Fluchtwelle-Kampagne. Die erste Riege des Berliner Personals begibt sich derweil auf widerwärtig-anbiedernde Agitationsreisen in Flüchtlingslager, als ob es um Wahlkampf ginge. Darum geht es zwar auch, vor allem aber um populistisch grundierte Stimmungsmache, die kein Randproblem ist, sondern den Kern der Politik der Mitte und ihrer medialen Verstärker ausmacht. Und da schwadroniert Münkler noch großspurig von Populismusresistenz in Deutschland!