Das Denkmal des unbekannten Arbeiters

»Abends: Gurken«. Karlheinz Nacksch hatte keine Freunde und starb ohne Trauernde. Ein Leben im Nachkriegsdeutschland

  • Jonas Engelmann
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist ein »Monument der Mittelmäßigkeit und der Einsamkeit«, das Billy Hutter in der Wohnung des 1989 tot im Rhein gefundenen Karlheinz Naksch erwartet. Eine entfernte Verwandte hat Hutter mit der Abwicklung der Wohnungsauflösung beauftragt, alle Spuren des seltsamen Großonkels Karlheinz sollten sich in einer Ludwigshafener Müllverbrennungsanlage in Rauch auflösen.

Und so betritt der Entrümpler - und Mitgründer der Ludwigshafener Künstlergruppe »Büro für angewandten Realismus/Maodadaisten« - die Wohnung, die ihn für die nächsten 25 Jahre nicht mehr loslassen wird: »Das kleine mit Papier angefüllte Zimmer. Der bis zum Bersten mit durcheinandergeratenen Akten gefüllte Büroschrank. Das landschaftsgleiche Ensemble aus losen Blättern, Fotos, Kontoauszügen, Notizheften und Broschüren auf dem am Fenster stehenden Schreibtisch. Der Stapel original verpackter Regenmäntel mit beiliegenden Kassenzetteln.« Hunderte von Karlheinz beschriebene Zettel und Notizbücher, leere Kartons und volle Sauerkrautdosen werden von Hutter geborgen, anschließend im von ihm betriebenen »Heimatmuseum Ludwigshafen« archiviert und schließlich in Form eines Romans dokumentiert. Das schlicht »Karlheinz« betitelte Buch changiert zwischen den spröden Fakten der erhaltenen Dokumente und dem Versuch, die Lücken zu füllen, den emotionslosen Stichpunkten Leben zu geben - ein Leben, um das in seiner Leere und Hoffnungslosigkeit den Verstorbenen kein Leser beneiden würde.

Man tritt beim Lesen mit Billy Hutter in das Leben von Karlheinz ein, begleitet ihn bei seiner Einschulung 1935, bei der Aufnahme in die Hitlerjugend 1939, beim Abitur 1948, dem abgebrochenen Studium der Physik in Heidelberg und Darmstadt, den Ausflügen mit den Eltern, bei seinen Einkäufen und Wanderungen, Prostituiertenbesuchen (»1. Mal: 5.- DM«) und Fahrten mit dem »Opelauto« - unzählige Notizen drehen sich um dieses Gefährt, das fast liebevoll beschrieben wird: »Zusammen mit Eltern in Frankenthal: unser mit beschfarbenem Kunstharzlack neugespritztes Opelauto abgeholt«. Staunend steht Billy Hutter vor diesem Leben, taucht ein in die Abgründe der Generation seines eigenen Vaters - der Autor ist Jahrgang 1958 - und begibt sich im Gerümpel und dem Schutt von Karlheinz’ Leben auf die Suche nach Anhaltspunkten dafür, wie sich die Generation, die ihre Erziehung und Schulzeit großteils im Nationalsozialismus durchlief, in die Nachkriegszeit eingeordnet hat. Der Tonfall Hutters ist ironisch, niemals aber überheblich, er ist geprägt von einem ehrlichen Interesse an den Abgründen dieses Ludwigshafener Lebens.

Karlheinz Naksch, geboren 1929 in Ludwigshafen, gestorben 1989 in Ludwigshafen. Er war zu diesem Zeitpunkt bankrott, seine Wohnung gekündigt; ein Leben ohne soziale Kontakte und ein Tod ohne Trauernde. Selbstmord, vermutet Billy Hutter, aus Einsamkeit. Karlheinz hat jede ausgegebene Mark und jede Zugfahrt seines Lebens festgehalten, aber darüber hinaus hat er nichts zu mitzuteilen. Keine Träume, keine Hoffnungen, keine Ängste - außer der Angst, zu kurz zu kommen. »Abends: Gurken«, notiert der damals 14-jährige Karlheinz 1943 etwa stoisch täglich über Wochen hinweg in seinem Tagebuch, nachdem es der Familie gelungen ist, eine Ladung Gurken aus Ludwigshafen-Oggersheim zu »organisieren«. Auf einem nicht datierten Zettel aus der Nachkriegszeit hält er fest: »Speisen, die gut schmecken: Spagetti, Hackbraten, Fleischküchle, Sauerkraut, Spinat, Apfelstrudel, Grießauflauf mit Äpfeln, Reispudding …« Sein Leben besteht aus Zetteln, die versuchen, sein Leben zu ordnen, und sich dabei in ewigen Wiederholungen verheddern: »Sonntag, 25. November 1973. Zu Hause: 1. Sonntags-Fahrverbot. Sonntag, 2. Dezember 1973. Zu Hause: 2. Sonntags-Fahrverbot. Sonntag, 9. Dezember 1973 …« Und so weiter. »Memoiren« nennt der Sohn eines BASF-Chemikers diese Fragmente seines Lebens, die Memoiren eines Arbeiters in der Arbeiterstadt Ludwigshafen: Laborangestellter bei Boehringer/Mannheim von 1966 bis zu seinem Tod - Tagebucheintrag: »Jacke für Labor gekauft.«

Der häufig kränkelnde Karlheinz ist schon früh ein Außenseiter, und auch in die NS-Strukturen seiner Altersgenossen passt er nicht recht hinein: »Flink, hart und zäh sind keine Eigenschaften, die man ihm zuschreiben kann, und Begeisterung für irgendeine ›Sache‹ ist ihm völlig wesensfremd. Wie alle seine Altersgenossen verfolgt der Hitlerjunge Naksch aber mit starkem Interesse den Kriegsverlauf.« Dabei zeigt sich bereits seine Vorliebe für Ordner, Zettelsammlungen und Notizen: Er zeichnet die Fronten in seinem Diercke-Weltatlas nach und legt einen Ordner mit Zeitungsausschnitten über die Bombardierungen Ludwigshafens an. Das Abenteuer Weltkrieg - Karlheinz ist gerade zehn geworden, als er beginnt - wird jedoch mehr und mehr zum Störfaktor im geregelten Leben der Familie Naksch, die sich noch 1944 hauptsächlich Gedanken darüber macht, ob der Osterurlaub im Schwarzwald in diesem Jahr wohl ausfallen muss.

Der Übergang in die Nachkriegszeit verläuft für die Familie Naksch dagegen recht reibungslos, sie betreibt auf bescheidenem Niveau Tausch- und Schwarzhandel. Karlheinz ist in seinem Element und dokumentiert 1948 detailliert die notwendigen Transportbehälter für die im Umland eingetauschten Lebensmittel: Auf zwölf Seiten listet er alle vorhandenen Schachteln, Kisten, Flaschen und Säcke auf, viele davon finden sich auch noch in seinem Nachlass. Und so organisiert sich Karlheinz durch die Jahre, politische Ereignisse prallen von ihm ab, nur das unmittelbare Lebensumfeld erscheint es wert, in die Memoiren aufgenommen zu werden, und hier auch nur die Außen- und nicht die eigene Innenwelt. Ereignisse wie »Papa schlägt mich mit Stock«, »mit Papa im Kino gewesen« oder »Sekt getrunken« sind einige der wenigen, die von der Ödnis der sonstigen Aufzeichnungen abweichen, die mehr und mehr auf eine »Schleife ins Chaos« geraten. Ein fünfzeilig beschriebener Notizzettel gibt davon Zeugnis: »Im Haus erledigen: a) sofort: Regenhaube falten, 2 Regenmäntel waschen. Gasmaskenschachtel. Bücher mit Folie einbinden, baden. b) bald: Folienbeutel beschriften, frühere Fotos beschriften, Radio entstauben, Reservebleis in Hose nähen, Ohren-Lärmschützer besorgen, breite Kragenstäbchen aus Celluloid schneiden. c) später: Fußgymnastik, Kreislaufbad, neue Fotos beschriften …«

Karlheinz’ Versuche, Anschluss zu finden, in einem FKK-Verein und unter den Kommilitonen, nachdem er sich 1949 als Student der Physik in Heidelberg eingeschrieben hat, scheitern. Nirgendwo kann er andocken, erleidet Zusammenbrüche, ist immer wieder länger krank und verrennt sich in der Hoffnung des kleinen Mannes, mit Glück - und der Hilfe des Vaters - zu Geld zu kommen: zuerst mit kleinen Betrügereien im Autoexport und später durch Aktienspekulationen, der Ursache des späteren finanziellen Bankrotts - »Dmark-Aufwertung beobachten!«, ermahnt ihn der Vater 1961 auf einer Urlaubspostkarte.

Dem sozialen und familiären Druck, beruflich dem Vater das Wasser zu reichen und bei der BASF zu landen, ist Karlheinz nicht gewachsen, 1963 bricht er endgültig zusammen und verbringt zwei Monate in einer Landesnervenklinik. Hutter führt aus: »Mit dem dunklen Ereignis dieses Tages - nennt es Zusammenbruch, Flucht oder Aufstand - endet K’s Leben als junger Mann. Er bricht jetzt auch bald das Studium ab oder wird relegiert. Es wird an jenem Tag festgeschrieben, dass er niemals den Doktortitel erhalten oder Erfindungen zum Patent anmelden wird. Es wird festgeschrieben, dass Vaters Schuhe zu groß sind und der Sohn seinen eigenen Weg hinaus in die Welt nicht finden wird. Er wird daheimbleiben. In seinem Zimmer, in der Wohnung der Eltern, bei uns in Ludwigshafen.«

Und so sitzt er Jahr für Jahr unter dem Weihnachtsbaum, die Ellbogen auf den Plastiküberzug über der guten Tischdecke gestützt. Er lebt in einem zehn Quadratmeter großen Zimmer bei seinen Eltern, plant die Familienurlaube mit dem Opelauto, beginnt ein beschauliches Berufsleben als Labormitarbeiter, zeigt keinerlei Interesse an anderen Menschen und pflegt weiter seine Memoiren: »Mit Papa Geld verrechnen, Briefmarken und Kalender verrechnen, 2 x rote Folienbeutel verrechnen, Aktentasche waschen, Handschuhe stopfen, Baden, Mutti verschiedene Lappen waschen lassen, Taschentuch waschen.«

Es wird gewaschen und gestopft, und dennoch bleibt Karlheinz unter dem Schutt des deutschen Wirtschaftswunders begraben, in Ludwigshafen, allein mit seinem Sauerkraut und seinen Notizheften, der Märklin-Eisenbahn und dem Opel᠆auto.

In der Dokumentation der Verzweiflung, mit der Karlheinz die Leere seines Lebens zu ordnen versucht, ist Hutters Buch mehr als ein dokumentarischer Roman über ein Arbeiterleben im Nachkriegsdeutschland, es ist ebenso ein Zeugnis der Einsamkeit im Kapitalismus.

Billy Hutter: Karlheinz. Metrolit-Verlag, 224 S., geb., 25 €.

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