Salafisten sehen sich als bessere Sozialarbeiter

Beratungsstelle kämpft gegen islamistische Radikalisierung von jungen Erwachsenen und bietet Unterstützung

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Initiative »Hayat« (Leben) arbeitet mit Jugendlichen, die in die islamistische Szene abrutschen. Laut dem Projekt braucht es vor allem Aufklärung und Alternativangebote.

Vater Samir wundert sich. Seine 17-jährige Tochter Soraya hätte längst aus ihrer Spandauer Sekundarschule nach Hause kommen müssen. Nach vielen Stunden der ergebnislosen Suche erhalten Vater Samir und Bruder Junis eine SMS von Soraya: »Mir geht es gut«. Sie sei in Syrien, »um für den Jihad zu kämpfen«. Sie hoffe: »Vater und Bruder würden es verstehen.« Die Verwandten raufen sich die Haare - eine junge Berliner Frau, die sich dem selbst ernannten Islamischen Staat anschließt. Dies mache doch keinen Sinn. Der für die Beratungsstelle »Hayat« arbeitende Psychologe Ahmad Mansour sieht das anders. Grade von jungen Frauen aus stark patriarchalischen Familien kann die Flucht in das »Kalifat« als ein »Akt der Befreiung« von Vater und Bruder verstanden werden.

Salafisten würden die unzufriedenen Frauen mit dem Versprechen locken, dass in ihrem »Kalifat« auch die Männer derselben rigiden Kontrolle unterliegen, wie sie selbst. Ihre Brüder würden »unislamisch« leben, da sie Drogen konsumieren und feiern gehen. Für die jungen Frauen, die anders als ihre Brüder abends das Haus nicht verlassen dürfen, stellt die Vorstellung einer allgemeinen Geschlechterkontrolle eine Form von Gerechtigkeit dar. Sind sie in Syrien angekommen, merken sie schnell, dass dort alles noch viel schlimmer ist. Vielleicht werden sie zwangsverheiratet, vielleicht ihre Pässe eingezogen. Ab diesem Punkt wird es schwierig, mit den Frauen weiter Kontakt zu halten oder sie gar wieder zurückzuholen.

Islamisten in Berlin

Der Verfassungsschutz beobachtet derzeit 670 Islamisten in der Hauptstadt, die in der Mehrzahl der ultrakonservativen Strömung der Salafisten zugerechnet werden, die als »dynamischste Bestrebung im Islam« gilt. Der Nachrichtendienst schätzt 350 der 670 Islamisten als »gewaltorientiert« ein. Mehr als 100 Berliner sind in die Kriegsgebiete in Syrien und den Irak ausgereist, darunter 15 Frauen. Etwa ein Drittel der Ausgereisten ist inzwischen in die Hauptstadt zurückgekehrt. Mindestens zwölf Berliner sind im Nahen Osten ums Leben gekommen.

Die Kriege in Nahost führen seit dem Sommer 2014 in Berlin vermehrt zu Konflikten: Im August 2014 beispielsweise löste die Verfolgung und Tötung von Jesiden in Irak auch hierzulande eine Protestwelle aus, an der sich vor allem die in Deutschland verbotene türkische Arbeiterpartei PKK sowie Linksradikale beteiligten. Am Rande dieser Demonstrationen provozierten auch immer wieder gewaltbereite Sympathisanten des selbst ernannten Islamischen Staates. Islamisten demonstrierten auch vor der Botschaft der Vereinigten Staaten am Brandenburger Tor.

Um die von den Behörden ins Visier genommenen Islamisten hierzulande zu deradikalisieren, hat Innensenator Frank Henkel (CDU) zum 1. April dieses Jahres ein Präventionsnetzwerk aufgelegt. Mit dem Netzwerk gegen Deradikalisierung wollen die Behörden junge Menschen und ihren Eltern helfen und eine Anlaufstelle bieten. Auch Ausreisen nach Nahost sollen durch das Projekt verhindert werden. Insgesamt 500 000 Euro stehen dafür bis 2019 zur Verfügung. mkr

Fälle wie dieser sind keine Seltenheit für die Beratungsstelle »Hayat«, die momentan 160 Familien in Deutschland betreut. Das Projekt wurde 2011 gegründet und basierte auf den Erfahrungen der Aussteigerinitiative für Neonazis »EXIT«. Das Wissen des Projektes wurde auf den Bereich des Islamismus übertragen und die Methoden angepasst. Die Beratung stehe allen zur Verfügung, die in einer Beziehung zu der sich radikalisierenden oder schon radikalisierten Person stehen. Es wird auch mit abgerutschten Jugendlichen selbst gearbeitet, wobei ihnen Erfordernisse und Möglichkeiten des Ausstiegs aus der islamistischen Szene aufgezeigt werden. Die Frage, warum junge Menschen sich islamistisch radikalisieren, ist schwierig zu beantworten. Der Psychologe Mansour erklärt, dass unterschiedliche Faktoren zusammenkommen müssen, wie Diskriminierungserfahrungen, eine fehlende Vaterfigur sowie kritische Lebensereignisse. Folgend kann sich ein »Radikalisierungsfenster« von etwa zwei Jahren öffnen, in denen Jugendliche sich neu orientieren und nach Antworten suchen. Oftmals sind es Salafisten (siehe Kasten), die dieses Fenster erkennen und erste Angebote schaffen. Sie zeigen den jungen Menschen vermeintlichen Respekt und geben ihnen eine Aufgabe sowie das Gefühl von Gemeinschaft. Bedürfnisse, die ihnen im deutschen Alltag oftmals verwehrt bleiben. Mansour bestätigt, dass Islamisten hier eine »Marktlücke« gefunden haben, die von islamischen Kulturvereinen, Staat und Zivilgesellschaft zu wenig beachtet wird.

Ein weiteres Problem sei die »Angstrhetorik«, mit der salafistische Prediger Zweifel der Jugendlichen mit Sünde gleichsetzen und so kritisches Denken unterbinden. »Ein Gott, der nur bestraft, macht unterwürfig«, erklärt Mansour. Hier gelte es, ein Alternativangebot des Islams aufzuzeigen, welches Barmherzigkeit statt Angst predigt. Die Weltbilder der jungen Menschen seien zudem oftmals von klaren Feindbildern sowie einer »gepflegten Opferrolle« geprägt. Die Gesellschaft müsse die politischen Fragen der muslimischen Jugendlichen endlich ernst nehmen, fordert Mansour. Es gelte »Räume zu schaffen«, wo »differenzierte Perspektiven« auf Konflikte ausdiskutiert werden können.

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