nd-aktuell.de / 25.09.2015 / Kultur / Seite 16

Geschichte der Migration

LESEPROBE

Sich räumlich zu bewegen ist eine »Wesenseigenheit« des Menschen, ein Bestandteil seines »Kapitals«, eine zusätzliche Fähigkeit, um seine Lebensumstände zu verbessern. Es ist diese tief im Menschen verwurzelte Eigenschaft, die das Überleben der Jäger und Sammler, die Verbreitung der menschlichen Spezies über die Kontinente, die Verbreitung des Ackerbaus, die Besiedlung leerer Räume, die Integration der Welt und die erste Globalisierung im 19. Jahrhundert ermöglichte. Dieselbe Eigenschaft lässt sich auch erklären als »Anpassungsfähigkeit« des Migranten, auf Englisch fitness genannt. Diese fitness war in den verschiedenen historischen Epochen ... nicht immer von derselben Art. Zum Beispiel verlangte die Agrarbesiedlung neuer Räume Menschen, die bereit waren, solide Familien aufzubauen, die, den traditionellen Werten verpflichtet, viele Kinder und eine so starke Arbeitskraft hatten, dass sie auch die folgenden Generationen zu neuen Besiedlungen antrieben. Ganz anders war die Migration der letzten zwei Jahrhunderte beschaffen, oft in die Stadtgebiete gerichtet und auf abhängige Tätigkeiten in der Industrie und im Handel zielend. Hier eigneten sich einzelne, kulturell flexiblere Personen besser, die Familien mit wenig Kindern gründeten.

Mit der Entstehung von Staatswesen und den daraus folgenden internationalen Migrationen entwickelte sich dann auch eine »Migrationspolitik« ... In letzter Zeit wurde die Migrationspolitik restriktiver und selektiver, während sich der Druck aus demographischen und ökonomischen Ursachen, die durch die Kluft zwischen Nord und Süd erzeugt wurden, vermehrte ... Immer mehr wird der Migrant als Arbeitskraft betrachtet, nicht als Teil der ihn aufnehmenden Gesellschaft. Viel wurde getan, um den ökonomischen Austausch zu steigern und zu regeln, nichts wurde getan, um die Migrationen zu steuern. Die Staaten weigern sich hartnäckig, auch nur einen winzigen Bruchteil ihrer Souveränität in Sachen Migration an eine der supranationalen Organisationen abzugeben. Doch besteht gerade ein wachsender Bedarf an einer Kooperation und einer Weltregierung, wenn die widerstreitenden Interessen ausgeglichen werden sollen und wenn man den Migrationen ihre positive Funktion in der Entwicklung von Gesellschaften wiedergeben will.

Aus dem Vorwort von Massimo Livi Bacci zu seinem Buch »Kurze Geschichte der Migration« (Wagenbach, 175 S., br., 10,90 €).