«Auf der Seite der Dekadenten»

Literaturforum im Brecht-Haus: Stephan Hermlin in einem Interview-Film von Ginka Tscholakowa

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Literaturforum im Brecht-Haus stellte Ginka Tscholakowa, langjährige Gefährtin Heiner Müllers, ihren fünfzigminütigen Interview-Film über Stephan Hermlin vor. Dessen Titel zitiert Grillparzer: «Ich komme aus anderen Zeiten und hoffe, in andere zu gehen.» Das Neue im Alten, das Alte im Neuen. Das 20. Jahrhundert als Zwischen-Raum - in den viel Hoffnung hinein- und sich totstürzte. Hermlin im Interview in seinem Haus. Pfeife rauchend, aufgeregt das Feuerzeug zwischen den Fingern drehend. Ein außergewöhnlich aufgeräumtes Erzählen! Der den Abend einleitende Literaturwissenschaftler Bernd Leistner nannte es, einen Begriff von Thomas Mann verwendend, «durchheitert». Das ist Tscholakowas Leistung: eine Freundin, näheerprobt. Hermlins Tod 1997 verhinderte weitere Gespräche.

Leistner liest ein Gedicht des romantischen Dichters Wilhelm Müller, «markerschütternd» hatte es Hermlin genannt und 1978 auf dem Schriftstellerkongress rezitiert - «Winterreise»-Lyrik «in eine Parteiveranstaltung hinein! Mutiger Aufriss einer Distanz - des Stilisten zu den Grobianen der Staatspraxis. Hermlin, Vermittler zwischen Generationen und Gegnern, hat oft polarisiert. Wahrlich kein Mensch der Masse, wurde er Diener der Klasse. Geriet als junger Mensch in Konflikt mit dem bourgeoisen, kapitalbezogenen Narzissmus, fühlte sich immer, wie er im Film sagt, »auf der Seite der Dekadenten«. Seine Helden? »Halbirre«. Jesus etwa. Er entwand sich als Jungkommunist unverbindlicher Freiheiten. In ihm »der Wunsch nach Gefahr« - stets stand er zu den Beschädigungen, die der Weg an eine Front mit sich bringt.

Den SED-Chefideologen Kurt Hager wird er später fragen, warum Max Beers Buch »Die Geschichte des Sozialismus« nicht in der DDR erscheine. Hermlin verweist auf Beers Ansatz, die Arbeiterbewegung als Ketzerbewegung zu zeigen. Dieser Deutung verweigerte sich die Partei: Man war nicht Ketzer, man war Sieger. Hermlin: »Mich aber zog die Partei als eine Partei der Schwachen an.« Der Traum: Mächtige zu verjagen, die Tragik: selber Macht zu werden. Der Weg vom großen Versprechen ins tödliche Verbrechen gegenüber sich selber.

Der Film: ein Fragment. Die Farbe herausgenommen aus dem Material. So vereint sich das Interview mit den Archivaufnahmen. Stille Winterstraße der Kindheit, das Reitpferd, die Arbeitslosen, der Blick in die ganz jungen Pimpfgesichter in Reih und Glied, in denen der Schneid die Kindheit tötet. Die trauernden Ruinen von Oradour. Tondokumente: Gedichte und Texte aus dem »Abendlicht«.

Tscholakowa: eine Frau von Wärme und Kraft - ihr Lächeln ist Stolz und Beharrung: Sie wird am Film (zu dem auch zahlreiche Statements von Weggefährten gehören) weiter arbeiten - den bislang kein deutscher TV-Sender mitzuproduzieren bereit ist. Feigheit und Kalkül. Elend eben.

Schriftstellerin Kerstin Hensel moderiert ein anschließendes Gespräch, nennt Hermlin einen »fast vergessenen« Dichter. Dichter bleiben, wer sie sind. Es gibt nur uns Dahineilende, die wir uns selber mit Vergessen schänden. Manchmal stehen Aufmerkzeichen am Rande der gehetzten Wege. Dieser Filmabend, bei dem Zuschauer wegen Überfülltheit des Raumes nach Hause geschickt werden mussten, war so ein Zeichen. Dichter sind nicht vergessen, sie warten. Auf ihre Zeit, die immer eine Zeit dieser einen Wahrheit ist: »Wo einer fragt, werden andere keine Antwort wissen, und wo Antworten gegeben werden, werden Fragen warten.«

Kerstein Hensel hatte diese Sätze aus dem »Abendlicht« an den Anfang gestellt. Es ist immer wieder dieser Anfang, aller Zeiten. Der anwesende Volker Braun hat es in einem Text über Hermlin so ausgedrückt: »In den Kämpfen, die bevorstehn, werden die Waffen wieder Steine sein und die Vernunft wird Worte brauchen.« Sie wird die uns Nachkommenden, vielleicht, brauchen. Hermlins Wort ist schon da.

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