nd-aktuell.de / 02.10.2015 / Politik / Seite 26

Straßen hui, Arbeit pfui

Unterschiede zwischen Ost und West gibt es insbesondere bei Beschäftigungsverhältnissen und Löhnen. Von Jörg Meyer

Jörg Meyer

Es waren ehrgeizige Pläne, und sie konnten nicht eingehalten werden - von der »Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« zur »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse« im Grundgesetz bis hin zur Feststellung der Bundesregierung im Jahresbericht 2014, dass es regionale Unterschiede in Deutschland »immer geben« werde.

Im Jahr 25 nach dem Beitritt der DDR zum Gebiet der Bundesrepublik ziehen Wissenschaftler des IMU-Instituts in Berlin im Auftrag des IG-Metall-Vorstandes Bilanz und werfen einen Blick nicht nur auf die Infrastruktur, die Demografie, die Arbeit und die Wirtschaft in Ost und West. Die Ergebnisse sind teilweise ernüchternd.

Was die Verkehrsinfrastruktur angeht, so habe Ostdeutschland weitgehend westdeutsche Standards erreicht, schreiben Gregor Holst und Walter Krippendorf in dem Papier. Signifikante Unterschiede in Erreichbarkeiten über Straße, Schiene, Luft- und Wasserwege seien nicht festzustellen. Bei der Energieerzeugung aus regenerativen Quellen liegt Ostdeutschland sogar mit Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern in Führung. Doch damit ist es auch der guten Nachrichten schon genug.

Angesichts der demografischen Entwicklung gerieten besonders die sozialen Infrastrukturen wie Nahverkehr, Bildung, Gesundheit, öffentliche Dienstleistungen unter Druck, »weil sie in der bisherigen Form kaum aufrechtzuerhalten und zu finanzieren sind«. Eine Folge könnte Landflucht sein, die gegenwärtige Entwicklungen noch verstärken könnte.

Während in Ostdeutschland die Alterung der Gesellschaft vor allem auf der abnehmenden Zahl der Jungen basiert, ist es im Westen die Zunahme der Zahl der Alten. Neben dem Geburtenrückgang sieht die Studie als Grund besonders die Binnenwanderung, »deren Saldo zwischen 1989 und 2013 stets zu Gunsten West- und zu Ungunsten Ostdeutschlands ausfällt«. Im Ergebnis wird im Osten ein Anstieg des Altenquotienten (dem Verhältnis der über 65-Jährigen zu den 20- bis 65-Jährigen) von 35 auf 65 Prozent bis zum Jahr 2030 und im Westen von 31 auf 51 Prozent prognostiziert. Gerade jüngere Menschen und Frauen ziehen von Ostdeutschland nach Westdeutschland, was den den Trend der alternden Bevölkerung noch verstärkt.

Die wirtschaftliche Angleichung sei im Jahr 2005 weitgehend zum Erliegen gekommen - nachdem er Osten bis Mitte der 1990er Jahre und Anfang des Jahrtausends zwei Wachstumsphasen erlebte. »Allein das Halten der bestehenden Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungskraft wir von einigen Autoren als Herausforderung angesehen«, heißt es in der Studie. Dafür verantwortlich: strukturelle Unterschiede. In Ostdeutschland habe sich nach 1990 eine kleinteiligere Industrie- und Betriebsstruktur herausgebildet. Es gibt kaum überregionale Wirtschaftscluster, mittlere und große Unternehmen sind wenig präsent, und durch das niedrigere Lohnniveau ist es auch schwerer, die Fachkräfte zu halten. Eine gewisse Reindustrialisierung habe es aber gegeben: Wurden im Osten 1993 knapp 16 Prozent der gesamten Wertschöpfung des produzierenden Gewerbes in Deutschland erbracht, waren es 2013 20 Prozent. Dennoch spielen sich fast drei Viertel der Wirtschaftsleistung im Osten im Dienstleistungsgewerbe ab.

Entsprechend mau sieht es bei den Arbeits- und Lohnbedingungen im Osten aus. Zwar hat die Beschäftigung um zwölf Prozent zugenommen, ein großer Teil davon beruht aber auf atypischer Beschäftigung - Minijobs, Teilzeit oder Leiharbeit. Wer nun denkt, dass die verknappte Ware Arbeitskraft bei steigender Nachfrage teurer zu verkaufen ist, liegt falsch. Die Löhne haben sich auf rund 77 Prozent des Westniveaus angeglichen, aber das fand weitgehend vor dem Jahr 1995 statt. Seitdem ist die durchschnittliche Einkommensdifferenz stabil. Tarifbindung und gewerkschaftlicher Organisationsgrad sind dagegen in Ostdeutschland flächendeckend niedriger.

In mehreren Thesen bieten Holst und Krippendorf Lösungsvorschlage an, um die Lebensverhältnisse weiter anzugleichen. Dazu gehören Maßnahmen, um die soziale Infrastruktur zu modernisieren und zu erhalten, um letztlich dem Wegzug Einhalt gebieten zu können. Und wer dableibt und auch noch Arbeit hat, der oder die muss unter guten Bedingungen arbeiten, doch das braucht seine Zeit und einen langen Atem, schreiben die Forscher. »Es gibt keinen kürzeren Weg zur flächendeckenden Angleichung der Einkommen zwischen Ost und West in der Industrie als den tarifpolitischen: die Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades und die Stärkung der Tariffähigkeit. Dies ist historisch und aktuell Bestandteil des Kerngeschäfts der Gewerkschaften auch im Angleichungsprozess.«