nd-aktuell.de / 02.10.2015 / / Seite 19

Mädchen, Dame 
& kein Kumpeltyp

Angela Merkels Weg zur Wendezeit: Zeitzeugen 
einer Kanzlerinnenentstehung. Von Gabriele Oertel

Jetzt wissen wir es aus berufenem Munde: Angela Merkel ist kein Kumpeltyp. Das, was Lothar de Maizière mehr als 25 Jahre nach seiner Zusammenarbeit mit der heutigen Kanzlerin zu Protokoll gibt, gehört zu den vielen kleinen Mosaiksteinen, die seit mindestens einem Jahrzehnt mit Vorliebe gesammelt werden, um dem Phänomen einer europa-, wenn nicht weltweit anerkannten wie mitunter auch beargwöhnten Politikerin auf die Spur zu kommen. Der letzte DDR-Ministerpräsident trifft sein Urteil über seine damalige stellvertretende Regierungssprecherin bei der Vorstellung eines neuen zwischen zwei Buchdeckel gepressten Näherungsversuches an den wundersamen Weg der unscheinbaren Pfarrerstochter und weithin angepassten DDR-Wissenschaftlerin zur allgewaltigen Regierungschefin und bisweilen gefürchteten CDU-Vorsitzenden.

»Merkels Welt zur Wendezeit« heißt das Buch des österreichischen Korrespondenten Ewald König, der auf ein echtes journalistisches Alleinstellungsmerkmal verweisen kann: Er berichtete zu jenen fernen Zeiten, als es noch zwei deutsche Staaten gab, sowohl aus dem einen als auch aus dem anderen Land. Und beobachtete in der dramatischen Zeit 1989 und 1990 sozusagen aus doppelter Perspektive die zunächst beiderseitig zögerliche und mit vielen Vorbehalten beladene Reise aufeinander zu, die bekanntlich zu einer rasanten und nicht ganz unfallfreien Fahrt in die deutsche Einheit geriet.

Dass Merkel kein Kumpeltyp ist, findet de Maizière übrigens gut, denn derlei führt nach seiner Erfahrung schnell zu Distanzlosigkeit. »Es hat lange gedauert, bis wir uns geduzt haben«, erinnert sich der letzte Ministerpräsident der DDR. Immerhin sind die beiden dabei geblieben - und das ist schon was. Denn König hat bei seinen Recherchen bei anderen Zeitzeugen der Kanzlerinnenentstehung erfahren, dass Merkel manch früherem Weggefährten das »Du« wieder entzog. Dem Fotografen Michael Ebner ist das passiert. Der hat dereinst für die »Bild am Sonntag« das berühmte Foto gemacht, auf dem der erste Wahlkampf der jungen Frau dokumentiert ist: Die Kandidatin sitzt spürbar fremdelnd in einer Fischerhütte auf Rügen im November 1990 und wird von keinem der vier Fischer auch nur eines Blickes gewürdigt. Ein surrealer Stimmenfang, den vermutlich nur die Fischer vergessen haben.

Der aber letztlich doch erfolgreich war. Denn die politische Newcomerin vom Demokratischen Aufbruch, die bei de Maizière nur gelandet war, weil die Ost-SPD damals das Amt des Vizeregierungssprechers nicht beanspruchte, holte trotz oder ob ihrer sichtlichen Unbeholfenheit den Wahlkreis für die CDU. Den hatte ihr Günther Krause - der Mann, der am Einigungsvertrag ein bisschen mitwerkeln durfte - angeboten. Vielleicht lag ihr Erfolg an der ihr von de Maizière attestierten Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte einfach sagen zu können und mit klaren Aussagesätzen zu operieren: »Angela Merkel hat keinen großen Wortschatz, schmückende Adjektive sind ihr fremd.« Vielleicht lag es auch daran, dass sie »in der formalen Logik fast unschlagbar« ist, wie der Ex-DDR-Ministerpräsident aus zahlreichen Auslandsreisen und Lagebesprechungen von seiner Vizepressechefin weiß. »Sie erreichte in der Hälfte der Zeit die doppelte Relevanz.«

Diese Schnelligkeit und Effizienz hat auch Petra Erler erfahren, die sich ebenfalls vorübergehend mit Merkel duzte, nachdem die beiden Frauen sich als Jungpolitikerinnen näher kennengelernt hatten. Erler ist »die einzige Ostdeutsche, die es in die hohen Etagen der Europäischen Kommission in Brüssel geschafft hat«, schreibt König in seinem Buch. Sie war Beraterin bei Außenminister Markus Meckel (SDP), wenig später unter de Maizière Staatssekretärin und hatte in ihrem früheren DDR-Leben beim Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam gearbeitet. »Und ab dem Tag, in dem Augenblick, ab dem sie mich siezte, wusste ich, dass Angela ihre Entscheidung getroffen hat. Da fühlte sie sich nicht mehr der Regierung de Maizière verpflichtet, sondern dachte nur noch an ihre Zukunft«, gibt sie zu Protokoll. Merkel habe knallhart Brücken abbrechen können, erinnert sich Erler, die das ohne Wertung verstanden haben will. »Wenn man das nicht kann, kann man nicht Bundeskanzler werden.« Merkel habe eben zeitig begriffen, dass »der neue Herr von morgen« Helmut Kohl heiße.

Das war freilich zu einem Zeitpunkt, als der allgewaltige Kanzler sie noch wie die meisten dies- und jenseits der Elbe unterschätzte. Obwohl sein späteres »Mädchen« da doch schon einiges hinter sich hatte. Nein, damit ist nicht ihr Aufbegehren in letzter Minute gegen den Institutschef an der Akademie der Wissenschaften gemeint. Und auch nicht ihr kurzer Besuch bei der Ost-SPD, die, so de Maizière, ihr wohl zu »quasselstrippig« dahergekommen war. Der Abstecher zeigt immerhin, dass im Leben der jungen Angela Merkel das Wort Alternativlosigkeit noch keine Rolle gespielt haben muss.

Sie fand schließlich eine Alternative für sich: den Demokratischen Aufbruch (DA). Dort sollte sie alsbald heftige Flügelkämpfe erleben, bei denen Merkel nach Aussagen von Gründungsmitglied Andreas Apelt stets zurückhaltend und nie polarisierend war. Dass sie schnell ein »großes standing« hatte und Einfluss gewann, führt Apelt darauf zurück, dass sie stets über den Dingen zu stehen schien und nicht kopflos wurde.

Letzteres geschah nicht mal, als nur Tage vor der Volkskammerwahl am 18. März 1990 der Super-GAU beim DA in Gestalt der Enttarnung von Parteichef Wolfgang Schnur als Stasi-Spitzel stattfand. Da hat sich Merkel zwar kurzzeitig geschockt und angeblich unter Tränen Rat von ihrem heutigen Mann geholt - aber danach ihren eigenen Weg fortgesetzt. Dies sei der Crashkurs in Sachen Krisenmanagement für die Politikerin gewesen, meint der Buchautor. Wer derlei hinter sich hat, den kann auch fürderhin kaum etwas aus den Latschen hauen, schwingt da eine mögliche Erklärung von Merkels späterer Unerschütterlichkeit mit - vom CDU-Spendenskandal bis hin zu Ukraine-Gesprächen, Griechenland-Programmen und Flüchtlings-Lavierereien. Vielleicht hat die Frau angesichts der Schnur-Geschichte sogar schon damals den Satz im Kopf gehabt, dass das Ausspähen von Freunden gar nicht geht - aber genau wie zwei Jahrzehnte später derlei verständliche Enttäuschung mit dem ihr eigenen Pragmatismus weggesteckt.

Im Wegstecken scheint sie ja sowieso unübertroffen. Was hat man ihr seit ihren ersten politischen Gehversuchen alles übergeholfen. Da gab es herablassende Bespöttelungen ihrer Kleidung und ihres Haarschnitts. Natürlich war sie unter all den selbst ernannten ausschließlich männlichen Kohl-Erben in der CDU nur die Alibi- oder Quotenfrau. Manche sagen mit Vorliebe »die Dame«. Die Unternehmens- und Politikberaterin Gertrud Höhler nannte sie abschätzig die Frau aus Anderland. Merkel hat das alles äußerlich unberührt gelassen. Wirklich zu schaffen gemacht haben soll ihr, so ist bei König zu lesen, nur die bei der CSU 2005 in Wildbad Kreuth kursierende »Zonenwachtel«. Aber bekanntlich haben alle, die in ihren Verletzungen so erfinderisch waren, die Frau nicht aufhalten können. Und sie zu fürchten begonnen, weshalb auch die peinlichen »Angie«-Zeiten in der Union längst vorbei sind.

Lothar de Maizière, der bis heute seine zahlreichen und wenig freudvollen Erlebnisse mit Helmut Kohl präsent hat und sich darüber mehr erregen kann, als darüber, dass die Leute vom DA 1990 so gar nichts mit seiner CDU am Hut hatten, wundert das nicht. Vermutlich hat er früher als andere in der CDU im Westen die Nehmerqualitäten der damals 35-Jährigen erkannt. Dass heute anlässlich ihrer zehnjährigen Kanzlerinnenschaft auch Merkels einstige Distanz zu der Partei, der sie nun schon 15 Jahre vorsitzt, als Sensation verkauft wird, ist ihm nur ein weiterer Beleg von Unkenntnis über die DDR.

De Maizière spricht gelassen von »Blockflöten« und den linken Überholversuchen der SED durch die Ost-CDU. »Die Allianz für Deutschland war keine Liebesheirat«, sagt er. Dennoch habe er Kohl überzeugen können. »Wenn man eine geschiedene Frau heiratet, muss man wissen, die bringt zwei Kinder mit - aber Erfahrung hat sie.« Die West-CDU setzte also auf die Allianz einschließlich der Ost-CDU und gewann die Wahl am 18. März 1990 und mit ihr die deutsche Einheit auf die bequemste Art.

Als Kohl nach der gesamtdeutschen Wahl im Dezember 1990 eine Ostfrau ins Kabinett holen wollte, freilich nur für ein »weiches« Ministerium, schlug Merkels Stunde. Da ahnte der Riese freilich nicht, dass sein Ziehkind ihm dereinst mit großer Härte das Wasser abgraben würde. Der Rest ist bekannt: Frauen- und Jugendministerin, Umweltministerin, CDU-Generalsekretärin, Parteichefin, Kanzlerin. Und Letzteres jetzt zehn Jahre. Spannend wird eigentlich nur noch, wie Angela Merkel ihren Abgang hinbekommt.