nd-aktuell.de / 08.10.2015 / Politik / Seite 5

Nur eine Steckdosenleiste

Schlägereien in Flüchtlingsheimen geben Anlass zu Spekulationen über die Gründe

Fabian Köhler
Flüchtlinge leben in improvisierten Bettenlagern, kalten Zelten und überfüllten Baumärkten. Immer öfter kommt es unter ihnen zu Gewalt. Wie am Dienstag in Hamburg. Versuch einer Erklärung.

Viel wird dieser Tage über die Gewalt zwischen Flüchtlingen in deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen diskutiert. Liegt der Grund in kulturellen Feindschaften? Ist es sexuelle Frustration? Gar fehlendes Demokratieverständnis? Oder reicht vielleicht doch eine einfache Steckdosenleiste als Erklärung dafür, warum hunderte Menschen aufeinander einschlagen?

Rund 60 Flüchtlinge gingen am Dienstagnachmittag in der Erstaufnahmeeinrichtung im Hamburger Stadtteil Hamburg Wilhelmsburg aufeinander los. Mit Eisenstangen prügelten afghanische und albanische Männer aufeinander ein. Mit 50 Mann rückte schließlich die Polizei an. Fünf Flüchtlinge wurden verhaftet. Ein Zelt war in Flammen aufgegangen. Die Stichwunden eines Mannes mussten im Krankenhaus behandelt werden.

Anas ist einer der 1500 Menschen, die in diesem Zelt- und Containerlager zwischen Autobahnzubringer und Sportplatz untergebracht sind. Der 27-jährige ehemalige syrische Bodybuildingmeister sieht aus, als könne er allein im Lager für Ruhe sorgen. Er war dabei, als der Streit um eine Steckdosenleiste eskalierte. Eine Steckdosenleiste, um die sich jeden Tag hunderte Flüchtlinge mit ihren Handy-Ladegeräten drängen, um nach Hause telefonieren zu können. Es ist die einzige im ganzen Lager.

Sechs Albaner seien auf einen Afghanen losgegangen, erzählt Anas. Erst verbal. Als immer mehr Flüchtlinge zum Toilettencontainer strömten, um zu helfen, zu schlichten oder zu streiten, flogen erst die Fäuste, dann die Eisenstangen. »Sie montierten die Stangen aus ihren Betten, einige zückten Messer. Es war blutig«, erzählt Anas. Einem der Flüchtlinge soll eine Waffe an den Kopf gehalten worden sein, berichten neben Anas auch andere Augenzeugen. Den Fall mit der Pistole dementierte die Polizei zwar, dennoch warnte der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, am Dienstag vor einer Verharmlosung der Gewalt. Die Lage- und Ereignisberichte der Polizei sprächen eine eindeutige Sprache, sagte er gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

Blickt man auf die Polizeiberichte der letzten Woche, scheint Wendt recht zu haben: Am 25. September schlugen in einer Leipziger Messehalle 200 Männer mit Latten, Tischbeinen und Bettgestellen aufeinander ein. Mehrere Stunden dauerte am Sonntag eine Schlägerei zwischen 400 Flüchtlingen in Kassel. Mindestens 14 Menschen wurden bei der Auseinandersetzung verletzt, die in der Warteschlange vor der Essenausgabe begann. Und in Braunschweig prügelten sich am Dienstag rund 300 Syrer und Afghanen, nachdem ein Handy verschwunden war.

»Eine getrennte Unterbringung auch nach den Religionen«, schlug kürzlich der Vizechef der Polizeigewerkschaft Jörg Radek vor. Viele Politiker schlossen sich seinem Vorschlag an. Andere widersprachen vehement.

Auch unter Flüchtlingen findet man solche Erklärungen, die die Ursache der Gewalt vor allem im Aufeinandertreffen bestimmter Ethnien sehen: »Die meisten Afghanen haben schon einmal getötet. Das merkt man«, ist so eine. Oder: »Viele Albaner sind frustriert, weil sie wissen, dass sie wahrscheinlich abgeschoben werden«. Doch eine andere Erklärung ist wesentlich verbreiteter: »Ihr wollt nicht, dass wir uns wie Tiere verhalten? Dann behandelt uns wie Menschen. Wir sind frustriert wegen der Kälte, weil uns niemand sagt, wie es weitergeht«, sagt Anas und meint die katastrophalen Bedingungen, unter denen er und die anderen Flüchtlinge seit Wochen in Hamburg-Wilhelmsburg leben: In den überfüllten Zelte schlafen auf eng gestellten Pritschen bis zu 18 Menschen ohne Licht, Strom und Heizung, während die Temperatur nachts auf vier Grad sinkt. Ein Lager mit zu wenig Betreuung und Verpflegung, in dem sich zwischen wenigen Toilettencontainern dutzende Menschen um die einzige Steckdosenleiste drängen.