Wahrheit und Dichtung

Der Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh vor zehn Jahren in Polizeigewahrsam dient als Vorlage für den ARD-»Tatort«

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.
Wenn Fernsehen mit Rückgrat, Leidenschaft, Wahrheitsliebe gemacht ist, hat es noch immer die Kraft zur Veränderung. Braune Bullen und krimineller Korpsgeist - nur Drehbuch. Aber ein fotorealistisches.

Große Ereignisse, sagt man, werfen ihre Schatten voraus. Doch das Sprichwort wegweisenden Weltgeschehens muss dringend erweitert werden. Denn mehr noch als Schatten werfen große Ereignisse Drehbücher voraus, Vorlagen künftiger Spielfilme, die – das zeigen zuletzt gleich zwei Filme zum Fall Hoeneß – nicht mal mehr den Ausgang des Ereignisses abwarten. Der Prozess gegen Beate Zschäpe etwa nahm erst richtig Fahrt auf, da stand Lisa Wagner bereits als NSU-Braut vor der ZDF-Kamera. Die Alpen lagen voller Germanwings-Trümmer als Autor Benedikt Röskau schon eifrig an seiner Katastrophentragödie »Blackbox Mensch« schrieb. Auch der Anschlag auf »Charlie Hebdo« ist Teil mehrerer Dramenprojekte, von der aktuellen Flüchtlingsflut ganz zu schweigen. Verglichen damit hat die ARD fast getrödelt, wenn am Sonntag ihr politischster »Tatort« seit langem läuft.

Er handelt vom afrikanischen Asylbewerber Oury Jalloh, der 2005 im Gewahrsam einer Polizeistation in Dessau verbrannt war. Obwohl der Vorwurf des Mordes durchs wachhabende Personal bis heute im Raum steht, wurde (nach zwischenzeitlichem Freispruch) einzig der Dienststellenleiter zu lachhaften 120 Tagessätzen wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Auf Initiative des NDR rückt dieser Skandal einer an Skandalen keineswegs armen Exekutive nun abermals ins kollektive Bewusstsein. Und er wird dort Spuren hinterlassen. Tiefe Spuren.

Zum einen, da ihn Wotan Wilke Möhring und Petra Schmidt-Schaller derart eindrücklich zum Leben erwecken, dass nicht nur politisch wachsame Zuschauer 90 Minuten körperlich mitleiden. Zum anderen, weil das Leitmedium dank seines unwiderstehlichen Drangs zur Faktenfiktionalisierung zusehends den Part einer soziokulturellen Paralleljustiz übernimmt. Wenn sich der rassistische Sumpf einer namenlosen Kleinstadt bei Hamburg ausgerechnet da auftut, wo doch Recht und Ordnung herrschen sollte, könnte es also über den Abspann hinaus Diskussionsbedarf geben. Und Günther Jauch könnte – falls kein neues Dokudramenthema in spe die »Tagesschau« dominiert – anschließend über straffällige Gesetzeshüter talken.

Debatte dank Entertainment – mehr konnten sich Regisseur Thomas Stuber und sein Autor Stefan Kolditz (»Dresden«) vom Krimiformat kaum erhoffen. Oder doch? Daniel Harrichs journalistisch recherchierte ARD-Dramen zum Oktoberfest-Attentat und illegalen Waffenhandel hatten zuletzt nicht nur gute Quoten, sondern juristische Folgen: Hier die Neuaufnahme der Ermittlungen nach 30 Jahren Justizblindheit. Dort eine aktuelle Stunde im Bundestag nebst Öl ins Feuer derer, die Deutschlands Militärindustrie seit Langem kritisieren.

Wenn Fernsehen mit Rückgrat, Leidenschaft, Wahrheitsliebe gemacht ist, hat es also noch immer die Kraft zur Veränderung. Als besorgte Ruhrpott-Bewohner 1973 zu Tausenden beim WDR anriefen, ob der »Smog« in Wolfgang Petersen berühmtem Fernsehspiel echt sei, hatte das zwar wie einst bei Orson Welles‘ Radio-Invasion Außerirdischer viel mit medialer Unreife der Zuschauer zu tun, gab der jungen Öko-Bewegung aber einen kräftigen Schub. Einige Jahre später belegte die Serie »Holocaust«, wie viel das Fernsehen zu echtem Wandel beitragen kann. Der US-Vierteiler war ja nicht nur ein Straßenfeger; er machte (gegen den Widerstand des Bayerischen Rundfunks) das Thema Nationalsozialismus endgültig massentauglich.

Solche Eruptionen einer Ära, als die halbe Nation vor ein und demselben Sender saß, sind im Zeitalter zergliederten Medienkonsums kaum noch möglich. Doch Filme wie »Contergan«, den der verantwortliche Pharmakonzern Grünenthal 2007 stoppen wollte und dafür bis vors Verfassungsgericht ging, oder das Scientology-Drama »Bis nichts mehr bleibt«, dem die inkriminierte Sekte drei Jahren später wütend zu Leibe rückte, zeigen, wie viel Wahrheit zuweilen in Fiktion steckt. Und da ist noch nicht mal vom Trend die Rede, die Wirklichkeit mit »Scripted Reality« oder »Living History« so zu inszenieren, dass sichtbare Unterschiede verwischen.

In »Tatort: Verbrannt«, der wegen seiner Strahlkraft vorab im Kino lief, verwischt wenig. Alles ist real und doch Fiktion, kein Fakt erfunden und doch jeder nur TV-Drehbuch. Braune Bullen, krimineller Korpsgeist, interkulturelle Sprachlosigkeit hat sich Stefan Kolditz zwar nur ausgemalt, aber sein Bild ist reiner Fotorealismus. Fernsehen das bewegt. Und verändert. Hoffentlich.

»Verbrannt«, ARD, 11.10., 20.15 Uhr

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