Die Verdammten dieser Erde

Das Los der Proletarisierten weltweit ist immer stärker von ihrer Überflüssigmachung gekennzeichnet. In Slums und verzweifelten Flüchtlingstrecks werden sie genauso sichtbar wie in den Ganglands und Bürgerkriegen, aber auch bei den Platzbesetzungen der vergangenen Jahre

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 7 Min.

Mitte September vermeldetet Indiens drittgrößte Tageszeitung »The Hindu«, dass in der nordindischen Stadt Lucknow auf 368 ausgeschriebene Stellen als Laufbursche in der Verwaltung 2,3 Millionen Bewerbungen eingegangen seien.

Man könnte meinen, dass der Job, auf den sich auch 222 000 Ingenieure und sogar 255 promovierte Wissenschaftler beworben haben sollen, überaus lukrativ wäre. Weit gefehlt. Für das Teekochen und den Transport von Akten, die Hauptbeschäftigungen der Tätigkeit, lockten im betreffenden Bundesstaat Uttar Pradesh lediglich 20 000 Rupien im Monat, rund 270 Euro. Aufstiegschancen gibt es ebenso wenig wie Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung in einem Job, dessen Einstellungsvoraussetzungen sich lediglich auf den Abschluss der fünften Klasse und die Fähigkeit, Fahrrad fahren zu können, beschränken.

Attraktiv genug dagegen allein wirkt in einem Land, in dem selbst nach Regierungsangaben 90 Prozent der städtischen Arbeitskräfte ihre Reproduktion im informellen Sektor zwischen Arbeitslosigkeit, minimal bezahlten Dienstleistungen und Gelegenheitsjobs fristen, ganz offensichtlich schon die Aussicht auf eine verbilligte und halbwegs menschenwürdige Dienstwohnung, eine Festanstellung und Pensionszahlungen, um eine solche Masse an Bewerbungen und damit zusammenhängenden Hoffnungen hervorzubringen.

Ein extremer Einzelfall sicherlich. Aber beileibe keiner, der nicht auch Entwicklungen auf dem zunehmend globalisierten Arbeitsmarkt verdeutlicht. Nicht nur der Ansturm auf die wenigen halbwegs gesicherten Arbeitsplätze ist beredter Ausdruck davon, dass relativ gesehen immer weniger Menschen in den Verwertungskreislauf des Kapitals eingesaugt werden, sondern auch die größten Migrationsströme der Geschichte wie auch die immer barbarisierteren Zustände in den »Failed States« und Bürgerkriegsgebieten der Welt.

Die Verdammten dieser Erde erwartet zunehmend weniger der schon an sich wenig erfreuliche Gang in die Ausbeutung, sondern eine Existenz, für die der Begriff des Prekären vollends geschönt wirkt. Denn die Orte, an denen sie sich in Millionenheeren sammeln, sind die Slums der Welt - und dies nicht nur in Asien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa, sondern zunehmend auch in den Metropolen der Weltwirtschaft. »Statt sich zu einem Zentrum für Wachstum und Wohlstand zu entwickeln, sind die Städte weltweit zum Müllabladeplatz für eine überschüssige Bevölkerung ungelernter, unterbezahlter und entgarantierter Arbeitskräfte im informellen Dienstleistungsgewerbe und Handel geworden«, folgerte selbst das Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen (UN-Habitat) in der bis dahin größten Studie zu diesem Thema unter dem Titel »The Challenge of Slums« bereits zu Beginn dieses Jahrtausends.

Dass das Elend ein urbanes Phänomen geworden ist, hängt zunächst mit dem Abschluss der »ursprünglichen Akkumulation« (Marx), also der endgültigen Trennung der Menschen von den Mitteln ihrer Reproduktion, vor allem ihres bewirtschafteten Landes, in den vergangenen Jahrzehnten zusammen. Die Vertreibung vom Land und die nunmehrige Abhängigkeit vom Warentausch ließen die Städte in historisch einmaliger Dimension expandieren.

Während der Prozess in Europa über mehr als ein Jahrhundert verlief - noch 1950 arbeiteten in Deutschland etwa ein Viertel, in Frankreich ein Drittel und in Italien fast die Hälfte der Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft, während es heute überall weniger als fünf Prozent sind - ging die Entwicklung in den ärmeren Ländern rapider vonstatten. Während 1950 noch über vier Fünftel der Menschen in den ehemaligen Kolonien auf dem Land lebte, sind es aktuell nur noch etwas weniger als die Hälfte - und dies weitgehend ohne die Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Lage. Als ein »Proletariat ohne Fabriken, Werkstätten und Arbeit, und ohne Bosse, im Wirrwarr der Gelegenheitsjobs, das verzweifelt versucht zu überleben, auf einem Weg, der über glühende Kohlen führt«, hatte Patrick Chamoiseau in seinem Roman »Texaco« die Einwohner der Slums von Martinique bereits Mitte der 1990er Jahre beschrieben.

Welch gigantische Massen von, gemessen an den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals, überflüssigen Arbeitskräften dies betrifft, darüber kann aufgrund der schlechten Erfassung vor allem in den Schwellen- und Entwicklungsländern lediglich spekuliert werden. Dass es sich aber um ein Vielfaches der etwas über 200 Millionen registrierten Arbeitslosen handeln muss, gestand sogar die Weltbank in ihrem Entwicklungsbericht für das Jahr 2013 unverhohlen ein.

Der US-amerikanische Stadtsoziologe Mike Davis hatte in seinem bahnbrechenden Werk »Planet der Slums« die Zahl derer, die »in der gegenwärtigen internationalen Ökonomie völlig heimatlos« seien, bereits 2006 auf deutlich über eine Milliarde Menschen taxiert. Seitdem dürfte deren Zahl noch weiter gesteigert worden sein, wie etwa die Handels- und Entwicklungskonferenz der UNO in einem explizit zu den globalen Arbeitsverhältnissen erstellten Bericht vom Anfang des gegenwärtigen Jahrzehnts verdeutlichte. Während in den Krisenregionen die Zahl informeller Existenzweisen sich deutlich erhöht habe, sei es selbst dort, wo Wachstum eingesetzt habe, nicht gelungen, »einen substanziellen Teil der überschüssigen Arbeitskräfte zu absorbieren«, heißt es dort.

Was die Buchhalter des Kapitals so lakonisch formulieren, bestätigt letztlich eine Voraussage ausgerechnet aus Marx' »Kapital«. Im wegen der vermeintlichen Teleologie unter modernen Linken verfemten 23. Kapitel seines Hauptwerkes formulierte Marx das »absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« als einen relativen Zuwachs der nicht verwerteten Arbeitskraft »im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee« und den unweigerlich folgenden »offizielle(n) Pauperismus«. Letztlich fußt die Argumentation darauf, dass die notwendig immer höhere organische Zusammensetzung des Kapitals, also die Steigerung des Verhältnisses von Investitionen in konstantes Kapital zum variablen Kapital der Lohnarbeit, trotz mancher Gegenbewegung mehr Arbeiter frei setzen würde als die Expansion in andere Sektoren aufzufangen in der Lage wäre, weil auch dort die technischen Rationalisierungen schnell eingeführt werden würden. »Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums«, so Marx' Fazit. Deutlicher noch wurde er einige Seiten davor: »Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eigenen relativen Überflüssigmachung.« Und zwar unabhängig davon, ob es sich bei den vom Kapital Verschmähten um Frischlinge auf den Arbeitsmarkt oder freigesetzte Arbeitskräfte handele. Unschwer sind hier die Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten spätestens seit der Dritten Industriellen Revolution der 1970er Jahre zu erkennen, in deren Zuge die Arbeitsplätze in der Industrie zunehmend - laut den aktuellen Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation soll dies selbst für China gelten - immer weniger wurden.

Angesichts dieser ziemlich stimmigen Voraussagen, die Marx selbst bereits anhand von Materialien der englischen Industrialisierung entwickelt hatte, mutet es geradezu erstaunlich an, dass die Linke sich der Perspektive der Überflüssigen - eine autonome Aktionsgruppe benannte sich allerdings immerhin vor einigen Jahren so - bisher sowohl analytisch als auch strategisch kaum angenommen hat. Ausnahmen bildeten die Gruppe Krisis, die das Phänomen allerdings lediglich in Hinsicht auf die Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals hin verschiedentlich untersuchte, und zuletzt die linkskommunistischen Zeitschriftenprojekte »Kosmoprolet« und »endnotes«, die dem Phänomen längere Artikel widmeten. Denn wenn auch Marx seine Revolutionshoffnung auf die »Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse« setzte, wie es kurz nach den skizzierten Aussagen heißt, so war der »aufs Pflaster« Geworfene für ihn ein fester Bestandteil dieser revolutionären Klasse. Und mehr noch: Die Vorstellung, dass Menschen kein anderes Mittel ihrer Reproduktion als den Verkauf ihrer Arbeitskraft hätten, diese jedoch auch in steigender absoluter Zahl nicht mehr von den Bossen nachgefragt würden, schien für ihn eine revolutionäre Situation geradezu heraufzubeschwören. »Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche die absolute Zahl der Arbeiter verminderte, (…) würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrheit der Bevölkerung außer Kurs setzen würde«, so Marx im von Engels zusammengestellten Dritten Band des »Kapital«.

Dass sich Marx hier zumindest geirrt haben könnte, steht allerdings zu befürchten. Denn obwohl sich in Lateinamerika aus den Slums vereinzelt »Territorien des Widerstands« (Raúl Zibechi) entwickelt haben sollen, und vor allem im Arabischen Frühling die informellen Arbeiter und Jugendlichen das Bild prägten und die Platzbesetzungen geradezu als der Streik der Proletarier ohne Prduktionsmacht erscheinen konnten, sind nicht nur deren Entwicklungen von Kairo bis Kiew wenig ermutigend. Davis etwa zeichnet auch ein ausgesprochen negatives Bild der Verkehrsformen in den Slums zwischen Entsolidarisierung, Gangkriminalitität, gegenseitiger Ausbeutung und staatlichem Terror, das ebenso wenig Gutes erwarten lässt, wie die Zugriffe fundamentalistischer Religions- und Terrorgemeinschaften. Augenfällig wird die Barbarei der kapitalistischen Produktionsweise aber in jedem Falle am Schicksal dieses Surplus-Proletariats, und dies nicht nur angesichts zehntausender Toter im Mittelmeer. »Jede Frage nach der Absorption dieser Menschen ist zu den Akten gelegt worden. Sie existieren nur noch als Zielscheibe staatlicher Maßnahmen: Ausgesondert in die Gefängnisse, marginalisiert in Ghettos und Lagern, dizipliniert durch die Polizei und vernichtet durch Kriege«, schreibt die Gruppe »endnotes« völlig zurecht. Da hilft es auch nicht mehr, dass zumindest die Bewerber auf die Stellen in Lucknow dem Staat auch ein wenig Ärger bereitet haben. »Die Besetzung der 368 Stellen würde vier Jahre dauern, wenn wir die 2,3 Millionen Kandidaten alle interviewen müssten«, vermeldete Landesministerin Ambika Chaudhary angeblich voller Verzweiflung gegenüber »The Hindu«.

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