Diese Blicke durch und durch

Am Mittwoch im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung: ein Abend für Thomas Brasch

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Diese Augen. Eine Provokation an Intensität. Eine Offenheit, die sich um nichts betrügen lassen will, was auf dieser Welt wahrnehmbar ist. Dieser Blick, der frech auffrisst, sanft ansaugt, ungehemmt staunt. Oder aber auf besondere Weise auf Durchgang schaltet: Er geht durch und durch, er geht durch die Zeiten - als gehe der Mensch, dem diese Auen gehören, durch einen Spiegel wie durch eine bittere Heimat: in Scherben zuhause.

Die Augen-Blicke des Dichters und Dramatikers, des Erzählers und Filmkünstlers Thomas Brasch. Sein Leben (1945 bis 2001): wie ein Vulkan der Momente, der alles aufsprengt, was sich schließen, verkapseln will. Dieses elende Deutschland Ost, dieses elende Deutschland West, dieses elende Deutschland Ostwest, Westost. Diese kalte Militanz aus Kadettenschule und Kaderfürsorge hüben, diese ebenso fesselharte Ungebundenheit drüben.

Ein Leben gegen Panzerungen in der Seele und Panzer in Prag und gepanzerte Festungen aus Ich und noch mal Ich. Sozialismus, Egoismus - das eine ein heller Schein, das andere ein blendendes Sein, beides finster. Da eingesperrt, dort ausgesperrt. Vielleicht sind immer die Kerkermeister drinnen, die Häftlinge aber draußen, jene ehrbaren Bösen und Besessenen, die glitzernde und scharfe Steine in den Wohlstandstümpel und das Seichtgewässer der Gemäßigten werfen. In der Hoffnung, die aufspringenden Spritzer hätten die Kraft von Säure.

Er war Baals Bruder. Eine Zeitwaise. Er hatte einen Vater, war aber stolz auf seine Vaterlosigkeit und hatte so einen Grund mehr, seine Existenz in der Nähe der Verzweiflung einzurichten, auszurichten, hinzurichten. Lebte er oder ging er nicht eher um? Als schönes starkes Gespenst, als ruchlos Genießender; im Draufgängertum stets schon das Abgängertum.

Die Augen. Kostbares Gut in der DDR, wo der »verstaatlichte Schädel« keine Augen brauchte, weil man sich freiwillig mit Blindheit schlug. Als seien sie Scheren - die schneiden am schärfsten, wenn sie sich zu schließen beginnen. Die Augenauswäscherei zur kühnen Zukunftsschau hochgelogen. Er ertrug’s nicht. »Vor den Vätern sterben die Söhne« heißt Braschs legendärer Erzählungsband. Vor den Aufbrüchen sterben die Ziele. Vor dem Schlaf im allzu weichen Bett sterben die Träume. Vor dem Tod stirbt das Leben, wenn es nicht rauschbegabt ist. Brasch war’s, der Exzess schrieb ihm am Ende ein gutes Zeugnis aus, den Totenschein.

»Wir hatten Fieber. Das war unsere Zeit. Jetzt kommt Papier. Das zählt nicht mehr.« Sagt einer im Stück »Rotter«, der leben und nicht bloß funktionieren will. »Die nennen das Schrei« heißt der Band mit allen Gedichten Braschs. Die nennen das Gesellschaft, die nennen das Freiheit, andere nennen das Alternative; der Schrei dagegen kostet, hier wie dort, damals wie heute - den Hals. Wenn man ihn nicht dreht. Und: »Engel aus Eisen« heißt einer seiner Filme. Gott aus Gallert. Der Mensch aus Weichteilen. Der Teufel aus unser aller Herzblut.

Die Augen. Einmal, in einer Szene eines Porträtfilms von Christoph Rüter (»Das Wünschen und das Fürchten«), wirft Brasch den Juden Holocaust-Sentimentalität vor, er fragt, warum sie sich damals nicht wehrten. Er will unbedingt, vor der Kamera eine Auschwitz-Passage von Peter Weiss lesend, dass dabei seine »schönen Augen« zu sehen sind - nur keine niedergeschlagenen Augen! »Orte wie Auschwitz entstehen durch niedergeschlagene Augen«. Josef Bierbichler, dieser gnadenlos kreatürliche bayerische Schauspieler, schrieb über Brasch: »Ich wollte an ihm den Ostler und den Juden kennen lernen, was das mit ihm und aus ihm gemacht hat. Seine Verletzlichkeit war enorm, und seine großen Augen wirkten oft aufgerissen und zeigten nicht nur Neugier, sondern - glaube ich - auch Angst.«

In einem Gedicht über Heine schreibt Brasch, der 1976 die DDR verlassen hatte: »Hinter den Augen/ Stürzen Wände«. Vor den Augen wachsen sie immer neu nach. Mauern, Zäune, rundum Selbstbegrenzungen. Brasch vergräbt sich nach 1990 mehr denn je in die Einsamkeit. Ist der Reibestoff weg? »Abschied von morgen, Ankunft gestern«. Er teilt nun gewissermaßen das Schicksal Heiner Müllers, sein starker frecher Schädel wird Knochen. Schmerz als Lebenselixier. Er taumelt. Aber der Tanker ist lieber Wrack als Boot, darin alle sitzen. Claus Peymanns Berliner Ensemble ist für den wuchtigen, zartpoetischen, sprachfeurigen Shakespeare-Übersetzer eine letzte Insel. »Du wirst sehen«, hat er zum Dichterfreund Lothar Trolle gesagt, »ich überlebe, indem ich mich nicht benutzen lasse.«

Er hat sich nicht benutzen lassen, er hat nicht überlebt. Die Gründe dafür gaben seinem Werk die bleibende Kraft. So furchtbar ist das. Bedenke, wer stets leichthin jeden Widerspruch preist, welcher Schrecken damit immer auch gepriesen wird.

»Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin. Ein Abend für Thomas Brasch - Texte. Szenen. Film.« So heißt die Veranstaltung mit Marion Brasch, Schwester von Thomas Brasch und Autorin des Familienromans »Ab jetzt ist Ruhe«, und dem Schauspieler Andreas Keller, die am 14. Oktober im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung stattfindet, Franz-Mehring-Platz 1, Friedrichshain.

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