nd-aktuell.de / 24.10.2015 / Kultur / Seite 9

Beinkleid bleibt Beinkleid

Martin Hatzius

Am Rande islam- und medienfeindlicher Aufmärsche sind Journalisten von wütenden Schlägertrupps in jüngster Zeit öfter mal Beine gemacht worden. Ein Paar solcher Extremitäten war am vergangenen Sonntag elf Sekunden lang in den ARD-Tagesthemen zu bestaunen. Zwischen Moderator Thomas Roth und Nachrichtensprecher Jan Hofer standen sie etwas rat- und vollkommen körperlos herum, von einem Kopf ganz zu schweigen. Natürlich überschlugen sich sofort die Spekulationen: Was war da vorgefallen?

Während viele zunächst von einer technischen Panne ausgingen, bestritt ARD-Chefredakteur Kai Gniffke das in den sogenannten sozialen Netzwerken vehement. Inzwischen werden seine vagen Äußerungen nebst einiger neckischer PR-Aktiönchen in den Folgetagen als Ankündigung einer anstehenden Neuerung bei den 20-Uhr-Nachrichten interpretiert: Vermutlich, heißt es, werden die Sprecherinnen und Sprecher der »Tagesschau« ihre Unterkörper demnächst nicht mehr hinter einem Tisch verstecken, sondern sich den Zuschauern von den Haar- bis zu den Zehenspitzen präsentieren.

Nach genauer Analyse der besagten elf Sendesekunden wollen wir uns mit so einer billigen Erklärung aber nicht abspeisen lassen. Augenfällig ist nämlich die Tatsache, dass es sich bei den mysteriösen Gliedmaßen um ausgesprochen lange Beine handelte. Der Vorwurf der »Lügenpresse« skandierenden Menge wäre damit überzeugend dementiert. Denn Lügen haben kurze Beine. Nein, hier in den Nachrichten präsent war offensichtlich: die Wahrheit. Nicht die nackte allerdings, wie wir einschränkend hinzufügen müssen. Denn ebenfalls ins Auge springt die elegante Hose, welche die Wahrheit in den »Tagesthemen« trug.

Ganz abgesehen davon, ob und wie sie sich kleiden, ist jeder der dieser Tage so schmählich verstümmelten Wahrheiten ein aufrechter Wunsch mit auf den Weg zu geben: »Kommen Sie gut durch die Nacht!«

Martin Hatzius

Foto: dpa/NDR