nd-aktuell.de / 07.11.2015 / Kultur / Seite 22

Protestverhinderungsstrategie

Der politische Ausnahmezustand gehört in Zeiten der Krise zur Normalität. Von Florian Schmid

Florian Schmid

Nach den Ausschreitungen bei den Blockupy-Protesten diesen Frühling in Frankfurt am Main wurde wieder einmal das Bild der immer gewalttätiger werdenden linksextremistischen Demonstranten bemüht. Politiker und Sicherheitsexperten sprachen allenthalben von einer neuen Eskalationsstufe. »Das Ausmaß der Gewalt hat in seiner Geballtheit eine neue Qualität erreicht«, erklärte Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft, der einen »Mob aus ganz Europa« agieren sah.

Dieser Stehsatz der linken Gewalttäter, die jung und hasserfüllt sind wie nie, ist nicht neu. Schon nach den Kreuzberger Ausschreitungen im Dezember 1980, die als Startsignal der Häuserkampfbewegung gelten, resümierte der damalige Berliner Innensenator, mit der APO-Zeit sei das »nicht mehr vergleichbar«. Die vermummten Chaoten wären nicht nur gewalttätiger, sie verfügten im Gegensatz zu den akademischen 68ern auch über keine politische Agenda mehr. Auch bei zahlreichen anderen Ereignissen - egal ob solidarische Proteste zum Erhalt der Roten Flora in Hamburg oder bei Blockaden gegen Naziaufmärsche in Dresden - wird regelmäßig »die neue Qualität der Gewalt« beklagt.

Solche Kommentare sind nicht einfach nur eine Diffamierung politischer Akteure oder die womöglich unrealistische Einschätzung eines sicherheitspolitischen Gefahrenpotenzials. Hinter diesen Aussagen verbirgt sich ein ganzes Repertoire liberaler Regierungstechniken und ihrer Rationalisierungen. Damit einher gehen Feindbildkonstruktionen, die Entpolitisierung der Protestbewegungen und die schrittweise Implementierung eines Ausnahmezustandes. Wenn im Liberalismus Zwang zumeist ökonomisch ausgeübt wird, so kommen in einigen Bereichen doch auch immer wieder autoritäre Maßnahmen einer polizeilichen Logik zum Tragen - etwa während großer politischer Protestveranstaltungen.

Trotz demokratisch verbriefter Grundrechte, die nach wie vor ihre Gültigkeit besitzen, kann ein Ausnahmezustand ausgerufen werden. Wie dieser Mechanismus funktioniert, zeigt die Politologin Anna-Lena Dießelmann in ihrer Studie »Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs« anhand der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007. Wobei sie zu dem Schluss kommt, dass der dortige Umgang mit der Protestbewegung und der Diskurs um Sicherheit wegweisend waren für die schleichende Einschränkung demokratischer Grundrechte hierzulande.

In ihrer detaillierten Studie zieht sie Akten der Innen- und Sicherheitsbehörden, Polizeipressemeldungen, Gerichtsurteile und Medienberichte heran, um zu zeigen, wie in einem breiten gesellschaftspolitischen Feld ein Krisendiskurs entsteht, um schließlich den polizeilichen Ausnahmezustand zu rechtfertigen. Auch wenn es in ihrer Analyse vor allem um Protestbewegungen geht, weist der Vorgang doch über den Umgang mit »politischen Gegnern« der außerparlamentarischen Opposition hinaus. Insofern hat die Fallanalyse der acht Jahre zurückliegenden Ereignisse in Heiligendamm eine weiterführende Dimension. Denn der Ausnahmezustand als Regierungstechnik zur Bewältigung sicherheitspolitischer Lagen und Ereignisse spielt in jüngster Zeit eine immer wiederkehrende Rolle. Das reicht von der Terrorhysterie nach dem 9/11 über die notstandsartigen Austeritätsprogramme der Finanzkrise inklusive der eingesetzten Krisenregierungen in Südeuropa bis hin zum Umgang mit den aktuellen Flüchtlingsströmen. Die immer wieder von Politikern und Medienvertretern bemühte Rhetorik von Krise und Ausnahmezustand steht dabei einer scheinbaren Normalität gegenüber, die bei Bedarf aufgekündigt werden kann, um angesichts des bevorstehenden »Worst-case-Szenarios« dadurch angeblich notwendig werdende Sonderregeln zu legitimieren. Die sicherheitspolitischen Sachzwänge regieren.

Schon im Vorfeld des Gipfels in Heiligendamm titelten »Süddeutsche Zeitung« und Deutschlandfunk vom »Ausnahmezustand«, in dem sich das Land bzw. der Ort an der Ostsee befände. Frühe Hinweise auf mögliche Gefahren waren Teil einer breit angelegten Medienstrategie der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Kavala, die den 16 000 Polizisten und 1100 Bundeswehrsoldaten umfassenden Großeinsatz leitete. Kavala sollte die als Krisensituation definierte »polizeiliche Großlage« managen. Der Polizeidirektion Rostock unterstellt, präsentierte sich Kavala bald, wie Dießelmann schreibt, als eigenständige Behörde, aber auch als medial wahrnehmbares Label. Neben einem eigenen Rundfunk für die Einsatzkräfte, einer offensiven Ansprache der Anwohner bezüglich angemessener Verhaltensweisen während des Gipfels, gab es eine regelmäßige Auswertung der Presseberichte und enge Kontakte zur Politik. So wurde im Juni 2006 auf Initiative von Kavala die Abfrage personenbezogener Daten erleichtert, wozu das Sicherheits- und Ordnungsgesetz in Mecklenburg-Vorpommern erweitert werden musste. Aber auch bundesweite Razzien im Vorfeld des Gipfels gehörten zum Repertoire der Gefahreninszenierung und Feinbildkonstruktion.

Dießelmann zeigt in ihrer Studie, wie auch das Feindbild des Schwarzen Blocks immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wurde und die Polizei sich als deeskalierende Kraft und eine Art Schiedsrichter-Instanz inszenierte, die außerdem vorgab, alle friedlichen Demonstranten gegen autonome Gewalttäter zu schützen. Die friedlichen Demonstranten wurden dabei zu passiven Opfern degradiert, die vom Schwarzen Block in »Geiselhaft« genommen worden seien. Gleichzeitig wurde den militanten Teilen der Bewegung jede politische Motivation abgesprochen und ihre Rolle dramatisch überhöht, sodass eine regelrechte Terrorgefahr an die Wand gemalt wurde. Um diese Gefahr einzudämmen, wurde auf einen Begriff der präventiven Sicherheit zurückgegriffen, wie er seit dem 9/11 fester Bestandteil eines internationalen Anti-Terrordiskurses wurde und heute jede sicherheitspolitische Debatte prägt. Diese Logik wurde fortlaufend intensiviert. Nach den Ausschreitungen bei der Großdemonstration in Rostock am 2. Juni gab Kavala dann die Zahl verletzter Polizisten mit über 400 an, was später revidiert, von der Polizei selbst aber nie offiziell korrigiert wurde. »Die Zeit« bezeichnete die autonomen Gruppen gar als eine »GSG für Arme«. Für Aufsehen sorgten auch die Meldungen über Säureangriffe auf Polizeibeamte, die auch bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt dieses Jahr wieder Erwähnung fanden. Im Fall Heiligendamm hatten als Clowns verkleidete Demonstranten mit Orangensaft um sich gespritzt.

Obwohl solche Verfälschungen in Presseberichten sukzessive revidiert wurden, halten sich diese Mythen bis heute und so wurde zuletzt anlässlich des G7-Gipfels im Sommer 2015 im bayerischen Elmau in den Medien wieder von der hohen Anzahl verletzter Polizisten in Heiligendamm berichtet - im Vorgriff auf zu befürchtende Ausschreitungen. Dießelmann verweist in ihrer Studie darauf, dass der Einsatz gezielter Falschmeldungen zur Legitimierung von Repression kein Einzelfall ist, sondern »ein Element der ›Grammatik‹ des Ausnahmezustands«, der durch solche Meldungen ausgerufen und inszeniert wird. Die Medien übernehmen derartig sensationelle Nachrichteninhalte dankbar und sorgen mit ihren zahlreichen Newsportalen, die oftmals bei zurückgefahrenen Personalstandards ohne eigene Recherchen lediglich Agenturberichte und Pressemeldungen zusammenfassen, für die fast schon virale Verbreitung.

Aber auch im juristischen Bereich dient der Umgang mit dem Protest in Heiligendamm immer wieder als Referenzpunkt: so bei der Einrichtung der polizeilichen Sonderzonen in Hamburg im Winter 2013/2014, aber auch beim Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2012 zu Bundeswehreinsätzen im Inneren. Anna-Lena Dießelmanns Fazit lautet: Die deutschen Sicherheitsgesetze und die Gesellschaft wurden gewissermaßen »heiligendammisiert«.

In der Praxis linker Bewegungen macht sich das regelmäßig bemerkbar. Angemeldete Großdemonstrationen gelangen nur noch selten ins Ziel und werden zuvor aufgelöst, so wie bei den Frankfurter Blockupy-Protesten 2013 oder der Hamburger »Recht auf Stadt«-Demonstration im Dezember 2013, die wenige Minuten nach ihrem Beginn frontal von Polizeieinheiten angegriffen wurde. Es ließe sich eine ganze Liste von solchen in den letzten Jahren vorab beendeten Demonstrationen zusammenstellen. Entsprechend werden Teilnehmer linker Großveranstaltungen häufiger mit der Implementierung eines Ausnahmezustandes und der Einschränkung demokratischer Grundrechte konfrontiert.

Das passiert aber nicht nur hierzulande. In Zeiten weltweiter Sozialproteste von Mexiko-City über Quebec und Madrid bis Istanbul spielt dies auf globaler Ebene immer häufiger eine Rolle. So wurde in Spanien 2010 ein wilder Streik der Fluglotsen beendet, indem von der damals noch sozialdemokratischen Regierung ein Notstand ausgerufen und das Streikgeschehen dem Militärrecht untergeordnet wurde. Mit dem »Ley Mordaza« wurde in Spanien außerdem gerade das Demonstrationsrecht empfindlich eingeschränkt. Aber auch das Beispiel Ferguson, wo auf die antirassistischen Proteste nach dem Tod des Jugendlichen Michael Brown mit nächtlichen Ausgangssperren reagiert wurde, zeigt die fortschreitende Implementierung dieses Ausnahmezustandes, der zum festen Repertoire globaler kapitalistischer Herrschaftstechnik geworden ist.

Anna-Lena Dießelmann: Ausnahmezustand im Sicherheits- und Krisendiskurs. Eine diskurstheoretische Studie mit Fallanalysen. universi-Verlag Siegen, 314 S., 19€.