nd-aktuell.de / 12.11.2015 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 9

Geflüchtete als Vorwand

Sachverständigenrat will Mindestlohn aushebeln

Simon Poelchau
Ob Steuergeschenke für Unternehmen oder Einschränkungen beim Mindestlohn - die neoliberale Giftliste des Sachverständigenrates ist lang.

Die sogenannten Wirtschaftsweisen machten noch nie einen Hehl daraus, dass sie den Mindestlohn nicht mögen. »Statt den Arbeitsmarkt noch stärker zu regulieren, sind die bestehenden Regulierungen kritisch zu überprüfen und zu korrigieren«, schrieb der fünfköpfige Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wie die »Wirtschaftsweisen« offiziell heißen, vergangenes Jahr.

Für die Ökonomen ist die steigende Anzahl hierzulande ankommender Geflüchteter ein willkommener Anlass, wieder gegen die gesetzliche Lohnuntergrenze vorzugehen. In ihrem am Mittwoch vorgestellten Jahresgutachten 2015/16 schlagen sie eine Reihe weiterer Ausnahmen vor. Lediglich der seinen Sachverständigenkollegen stets kritisch gegenüberstehende Peter Bofinger widersprach den Ideen.

Dabei ist der Mindestlohn nicht die einzige Sache, bei der er seine Stimme gegen die übrigen Sachverständigen erheben musste: Unter dem Titel »Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt« präsentierten die Berater der Bundesregierung eine wahre Giftliste neoliberaler Forderungen wie steuerliche Vergünstigungen für Unternehmen, die Abschaffung der Förderung regenerativer Energiequellen und den Investorenschutz durch Schiedsgerichtsverfahren im Rahmen von Freihandelsabkommen wie TTIP zwischen der EU und den USA.

Die Ökonomen rechnen mit einem Wachstum der Wirtschaftsleistung von 1,7 Prozent für dieses und 1,6 Prozent für das nächste Jahr. »Durch die Flüchtlingsmigration ist es jedoch noch wichtiger geworden, die Zukunftsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft durch geeignete Rahmenbedingungen zu gewährleisten«, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Christoph Schmidt. Die voraussichtlichen Mehrausgaben angesichts der verstärkten Migration von maximal 8,3 Milliarden Euro im Jahr 2015 und 14,3 Milliarden Euro im Jahr 2016 hält sein Team für verkraftbar.

Doch dürften für die hierzulande ankommenden Geflüchteten die »Hürden für die Beschäftigung nicht zu hoch ausfallen«, schreibt das Gremium. Ihre Forderungen: Arbeitsuchende Migranten sollen von Anfang an als Langzeitarbeitslose gelten und die Ausnahme vom Mindestlohn bei eben jener Gruppe Arbeitsloser von sechs auf zwölf Monate verlängert werden. Auch Praktika sollen künftig bis zu einer Dauer von einem Jahr von der Lohnuntergrenze befreit sein. Zudem denkt der Rat über einen nach Alter gestaffelten Mindestlohn für junge Erwachsene nach.

»Die Zuwanderung von Flüchtlingen sollte nicht zum Anlass genommen werden, den Anwendungsbereich des Mindestlohns einzuschränken«, wandte sich der Sachverständige Peter Bofinger gegen die Mehrheitsmeinung seiner Kollegen. Ihm zufolge dürfte sich bei aller Unsicherheit über die Entwicklung der Migration die Anzahl der in den deutschen Arbeitsmarkt eintretenden anerkannten Flüchtlinge zunächst in Grenzen halten.

Von den übrigen Vorschlägen der anderen Sachverständigen unter dem Motto »mehr Markt und weniger Staat« hält Bofinger auch nicht viel: »Die in diesem Gutachten von der Mehrheit vorgeschlagenen Reformen würden die Handlungsfähigkeit des Staates erheblich einschränken.« Dies gilt ihm zufolge ebenso für die ins Spiel gebrachte Insolvenzordnung für Staaten wie für die Entprivilegierung von Staatsforderungen in den Bankbilanzen, welche der öffentlichen Hand gerade in Krisenzeiten die Finanzierung erschweren würde.

Der LINKE-Wirtschaftsexperte Michael Schlecht hält den Sachverständigen indes zumindest zugute, dass sie »völlig zu Recht« feststellen, dass die Kosten für die Flüchtlinge tragbar seien. »Leider sind die Forderungen, die der Rat dazu aufstellt, wie gewohnt, wenig hilfreich«, so Schlecht. Kommentar Seite 4