Werbung

Du sollst funktionieren!

Ohne die Frage nach dem guten Leben bleiben revolutionäre Impulse aus. Was Widerstand mit Genuss zu tun hat, erklärt Stefan Kleie

  • Stefan Kleie
  • Lesedauer: 6 Min.

Nach den Attentaten von Paris werden sie wieder einmal beschworen: die sogenannten westlichen Werte. Die in den Verfassungen garantierten, einst schwer erarbeiteten Freiheiten müssen aber auch mit Inhalten gefüllt und vor allem gelebt werden. Doch nicht nur von außen, von den mörderischen Banden des IS, wird ein freier, geselliger Lebensstil bedroht.

Es genügt, eine Filiale der großen Buchhandelsketten zu betreten, um den Eindruck zu gewinnen, dass die seit dem Anfang der griechischen Philosophie zentrale Frage nach dem guten Leben einem ziemlichen Krampf gewichen ist. Symptomatisch hierfür ist der Boom der Ratgeberliteratur. Fein säuberlich sind die Kategorien geordnet. Über Job-, Bewerbungs- und Karriereratgebern steht in unsichtbaren Lettern das Gebot des Marktes: »Du sollst funktionieren«. Nur wenige Meter davon entfernt finden sich allgemeine Lebenshilfen und solche zu Entspannung und Burnout-Therapie. Der neueste Trend - »Achtsamkeit« in allen Lebenslagen - säuselt mit angenehmer Stimme, doch nicht weniger eindringlich: »Du sollst nicht funktionieren«. Aus diesen Widersprüchen soll nun bitte jeder noch seine persönliche »Work-Life-Balance« basteln.

Nach diversen Diät- und Ernährungsratgebern und den unverwüstlichen Kochbüchern folgt auf einschlägigen Bestsellerlisten »Sei einzig, nicht artig«, »Lebenscoaching vom Bestsellerautor« Martin Wehrle. Veit Lindau fordert ebenso penetrant duzend ganz einfach: »Werde verrückt!«. Denn »nur so erkennt man, was man wirklich-wirklich will, kann authentisch zu seinen Idealen stehen und hat die Kraft und Ausdauer, seinen Wunsch auch in die Tat umzusetzen.« (Ankündigung des Verlags) Das Buch ist kein Ratgeber für Aussteiger oder fröhliche Schizophrene, sondern für angehende »Erfolgsmenschen«. Bücher wie die der »Coaches« Wehrle und Lindau zeigen, dass die saubere Trennung in »Work« und »Life« eben nicht funktioniert, dass der Neoliberalismus nicht von neurotischen Planerfüllern, sondern von enthemmten »Visionären« vorangetrieben wird. Doch damit wird ebenso offensichtlich, dass der Appell ans Ego nur eine besonders perfide Strategie zur Leistungssteigerung ist.

Zum Glück gibt es auch heute noch Philosophen, die sich fernab des Spezialistendiskurses der universitären Philosophie mit derartigen Problemen beschäftigen. Allerdings findet man Denker wie Byung-Chul Han oder Ariadne von Schirach fast nur noch im Umfeld von Kunsthochschulen. Gut möglich, dass es sich bei diesen exklusiven Bildungsinstitutionen, die das Glück haben, ihre Studierenden selbst auswählen zu können, um letzte Widerstandsnester einer intellektuellen Kultur handelt. Robert Pfaller, der im deutschsprachigen Raum wohl einflussreichste Vertreter einer neuen Form der Lebenskunst, lehrt Philosophie und Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz. Wie neben ihm vielleicht nur noch Slavoj Žižek kennt sich der in Wien geborene Pfaller mit den Paradoxien unserer Gegenwart aus. Er macht sie zu Dreh- und Angelpunkten einer Kulturkritik, die gehörig an der politischen Korrektheit und altem Lagerdenken kratzt. Dabei verwendet er Alltagsbeobachtungen, die er zu scheinbar leicht verdaulichen Anekdoten verdichtet. Im Gegensatz zu den individualistischen »Selbstsorgern« der Yoga-Vegan-Kreativ-Fraktion führt Pfallers Weg zum guten Leben über die Gesellschaft.

Ganz so frei, wie es die westlichen Gesellschaften von sich gerne behaupten, sind sie nämlich gar nicht. Seit Mitte der 90er Jahre durchziehen immer restriktiver ausgelegte Verhaltensvorschriften und Verbote den Alltag. Der Staat, der sich als Akteur immer stärker aus der Öffentlichkeit zurückzieht, verlegt sich nun auf die Regulierung des Privaten, freilich unter dem Deckmantel des »Schutzes der Privatsphäre«. Das Rauchverbot ist nur das prominenteste Beispiel, Vorschriften zu gesundem Essen, eine wachsende Humorlosigkeit und eine neue Prüderie ließen sich hinzufügen.

Entscheidend ist, dass derartige Verbote und Verhaltensvorschriften zur Einschüchterung und Entsolidarisierung führen: Nichtraucher werden gegen Raucher aufgehetzt, Fitte gegen Fettleibige, Fleißige gegen Faule usw. In diese Regulierungs- und Verbotskultur ordnet Pfaller auch die sogenannte political correctness ein. Das Toleranzgebot etwa fährt scharfe Geschütze auf, denn immer geht es gleich um meine »Identität« und die Würde und den Stolz ganzer Kulturen und Religionen. Pfaller hat die Beobachtung gemacht, dass es sich für alle Konfliktparteien mit der Zuschreibung von kultureller Differenz gut leben lässt: »So sind’s nun mal, die Araber!« »Wollen nicht mit uns reden, die Deutschen«. Ende der Diskussion. Das ist allemal schmeichelhafter als schnöder Sozialneid, doch auch so wird Solidarität verhindert.

Diese Herrschaftstechniken haben die alles entscheidende, existenzielle Frage verdrängt: Wofür lohnt es sich eigentlich zu leben? Wohlgemerkt, das Leben bleibt ein großer Wert: Alles wird dafür getan, es zu verlängern. Doch am Ende haben wir nur »eine ganze Reihe von Maßnahmen, die das Leben erhalten, doch wenn wir alle umsetzen, dann töten die das Leben«. Und genau hier befindet sich wohl gerade der wundeste Punkt unserer westlichen Gesellschaften.

Entscheidend ist es jedoch, eine Position jenseits des vor allem durch Routinen geprägten curriculum vitae, des Lebenslaufs, zu gewinnen. Der französische Autor Georges Bataille hat hierfür in den 30er Jahren den Begriff der »Souveränität« geprägt; eine Position der freien Bestimmung über das eigene Leben, die mal genussbetont, mal heroisch anmutet. Pfaller dient der Bezug auf Bataille dazu, »dem Faschismus nicht das Monopol auf bestimmte gesellschaftliche Felder zu überlassen, vor allem nicht das Monopol auf das Heilige, den Exzess, die Überschreitung«. Das Heilige ist nicht nur eine Angelegenheit der Religionen, denn jede kulturelle Gemeinschaft verfügt über heilige Ressourcen, die dazu dienen, den profanen Zeitlauf zu unterbrechen. Erfahrbar wird dieses Heilige des Alltags im gemeinsam begangenen Fest, nicht im abstrakten Für-wahr-halten bestimmter Glaubenssätze. Mit Bataille sieht Pfaller eine der Hauptfunktionen der Kultur darin, das Individuum überhaupt zum Genuss zu befähigen, denn jeder Genuss ist das Ergebnis der kollektiven Überschreitung einer Scham- oder Ekelgrenze - seine Kehrseite die Sucht. Und tatsächlich gibt es keine traurigeren Gestalten als den einsamen Trinker oder Pornokonsumenten; die Askese-Exzesse des Neoliberalismus sind in den Körpern der Magermodels eingeschrieben.

Eine Linke, die um jeden Preis rational argumentieren und rational überzeugen will, läuft Gefahr, dieses Terrain der Reaktion zu überlassen. Da wird dann mal eben die Sau rausgelassen, Frust, aber auch Begeisterung entladen sich, und das Heilige bekommt eine klare Identität, die auf Abgrenzung beruht: »Volk« oder »Nation«. Es stimmt schon: Zumindest die politisch aktive Linke tut sich traditionell schwer mit dem Genuss. Adornos Verdikt gegen die »Kulturindustrie« und auch die Konsumkritik der Grünen wirken lange nach. Natürlich lernt man durch das Studium der Soziologie, Geschichte oder gar der knochentrockenen Wirtschaftswissenschaften viel über Gesellschaft - wenig jedoch über das gute Leben. Das komme, so heißt es, ja ohnehin erst auf die Tagesordnung, wenn eine gerechtere, solidarischere Gesellschaft verwirklicht sei. Doch dem ist mitnichten so. Pfaller kontert hier mit der These, »dass es keinen revolutionären Impuls gibt, wenn sich die Leute nicht mehr die Frage nach dem guten Leben stellen«. Sein literarischer Kronzeuge Bertolt Brecht gibt dem eine geradezu emblematische Gestalt. In dem Gedicht »Resolution der Kommunarden« heißt es: »In Erwägung, dass ihr uns dann eben mit Gewehren und Kanonen droht, so haben wir beschlossen, von nun an schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod.« Was für die Revolutionäre des gescheiterten Aufstands von 1871 galt, gilt auch an den Orten, an denen die IS-Terroristen zuschlugen: ein Fußballstadion, das Konzerthaus »Bataclan« und die Bars und Restaurants des 10. und 11. Arrondissements. Sowohl beim großen Sportereignis als auch beim Rockkonzert oder dem geselligen Alkoholkonsum und dem guten Essen handelt es sich um »zivilisierte Genusspraktiken«.

Die Befürworter des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) sind auf dem richtigen Weg. In ihrem Umkreis, der gern auch als »Sozialismus 2.0« firmiert, hat der etwas angestaubt klingende Begriff der »Muße« eine erstaunliche Konjunktur. Vielleicht gelingt es ja, diesem Bildungsbürgerbegriff etwas vom Geist Bataillescher Exzesse einzuhauchen? Auch zum veganen Frühstück im Bürgerbüro der LINKEN gibt es ja Alternativen.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal