nd-aktuell.de / 05.12.2015 / Kultur / Seite 27

Mikroben überall - Freund oder Feind?

Es gibt kein Lebewesen, das nicht von Millionen Winzlingen besiedelt wäre. Von Gert Lange

Gert Lange

Bakterien und Mikroben aller Art: Schädlinge, fiese Parasiten, die unserer Gesundheit schaden. Die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Die Vorstellung des Fremden in unserem Körper hat uns das Gruseln gelehrt. Neueste Erkenntnisse lassen die heimlichen Mitbewohner jedoch in einem eher positiven Licht erscheinen.

Auf meiner früheren Arbeitsstelle hatten wir einen Kollegen, der sich wöchentlich ein neues Handtuch von zu Hause mitbrachte, der nur aus seiner eigenen Tasse trank und in der Kantine das Besteck, bevor er es benutzte, mit einem desinfizierten Tuch reinigte. Wir nannten ihn »Desi«. Wir fanden seine Sorgfalt übertrieben, aber er wusste die Übeltaten der mikrobischen Grenzverletzer wortreich zu erklären.

Angst bestimmte über Generationen das Verhältnis der Menschen zur Mikrobenwelt. Durchaus verständlich, seit Robert Koch die Erreger von Tuberkulose und Cholera entdeckt hat. Die Wissenschaft stürzte sich auf Segregationsapparate und Mikroskope, um weitere pathogene Mikroben zu erkennen und um Strategien gegen deren verheerende Wirkung zu entwickeln. Bakterien galten und gelten heute noch weithin als Eindringlinge in einen autonomen Organismus. Ihnen kann man nur den Tod wünschen. »Krieg, nichts anderes!« war die Devise.

In einer ambitionierten Vortragsreihe der Daimler-und-Benz-Stiftung, die unter dem etwas altertümlichen Logo »Philoxenie (Gastfreundschaft) im Haus Huth« am Potsdamer Platz in Berlin Experten zu Wort kommen lässt, hat der Biologe, Chemiker und Wissenschaftspublizist Bernhard Kegel dem Klischee von den bösen Mikroben einen mächtigen Dämpfer verpasst. Er geht davon aus - und belegt es mit Dutzenden detaillierter Studien -, dass wir ohne Mikroben gar nicht leben könnten. Gleich, ob Pflanzen, Tiere oder Mensch, alle Organismen haben Millionen von Bakterien an und in sich, ohne die sie früher oder später sterben würden. Wirt und Symbionten existieren in trauter Gemeinschaft zum gegenseitigen Vorteil.

Als die Forscher lernten, mit Hilfe der DNA-Sequenzierung nicht nur Genome einzelner Mikroorganismen, sondern deren Gesamtvorkommen in einem Biotop zu analysieren, kamen sie selbst aus dem Staunen nicht heraus. In einem Teelöffel Erde oder Meeresschlamm tummeln sich etwa 20 000 Mikrobenarten. Arten! Wie viele Einzelwesen mögen das sein? Die größtenteils noch nicht identifizierten Einzeller leben überall, in tiefsten Erdschichten, in der Luft, im Wasser, im Eis. Was nicht verwundert, denn sie konnten sich über einen Zeitraum von mindestens drei Milliarden Jahre Evolution der jeweiligen Umgebung anpassen.

Wie die ersten höher entwickelten Lebewesen entstanden, ist noch nicht ganz geklärt, aber dass sich ihr Organismus nur in Wechselbeziehung mit den massenhaft vorhandenen Mikroorganismen entwickeln und erhalten konnte, darüber sind sich die Wissenschaftler einig. Die Konsequenzen solcher Partnerschaft wurden erst durch die rasanten Fortschritte der Mikrobiologie in den letzten zehn Jahren deutlich. Kein Lebewesen ist mit sich allein. Die Aufmerksamkeit der Analytiker vernachlässigt nicht den kranken Körper, aber sie hat zunehmend auch den gesunden im Blick.

Der Mundraum von Menschen zum Beispiel ist aufs Genaueste untersucht worden. Im Zahnbelag hat man etwa 10 000 Bakterienarten gefunden. Sie verschwinden auch nicht mit dem Zähneputzen; ihre Populationen reproduzieren sich stets aufs Neue. (Was nicht heißt, dass Zähneputzen keinen Sinn hätte.) Erstaunlich: Auf der Vorderseite der Zähne siedeln andere Spezies als auf der Rückseite. Auf der Zunge, im Gaumen wieder andere. Vergleicht man die Mundflora des Menschen mit der des vertrautesten vierbeinigen Begleiters, des Hundes, so stimmen beide nur zu 16 Prozent überein. Auf unserer Handfläche leben trotz Händewaschens mehr als 4700 Spezies, und das Wunderliche: Bei Frauen mehr als bei Männern, das Biotop der linken Hand unterscheidet sich von der rechten. In der Lunge, im Magen, im Darm - einem Hotspot lebender Mikroben (siehe unten) - überall agieren Bakterien, winzige Pilze oder Tierchen, die in Symbiose wohltuende Funktionen erfüllen. »Der Mensch entpuppt sich als ein hochdiverses Ökosystem«, sagt Kegel.

Das ist eine völlig neue Sichtweise auf die großen Zellverbände, die wir Organe und im Ganzen Organismus nennen. Die Millionen Gene unseres Mikrobioms verhelfen uns zu ganz existenziellen Fähigkeiten: Sie schließen Nahrungsbestandteile auf, unterstützen das Immunsystem, transportieren Information. Deshalb, so schlussfolgern viele Lebenswissenschaftler, gibt es zwar im mentalen Sinn Individuen, aber nicht im biologischen Sinn. Sie betrachten vielzellige Lebewesen als »Supraorganismen«. Bernhard Kegel bevorzugt den von zwei amerikanischen Mikrobiologen, Forest Rohwer und Nancy Knowlton, geprägten Begriff »Holobiont« (von griechisch »holos«, das Ganze), der die neue Betrachtungsweise besser erfasst. Für ihn sind Mikroben »die Herrscher der Welt«, wie er sein jüngstes Buch betitelt. Denn: Wir sind alle Holobionten.

Nach all dem ist klar, dass es keinen Sinn hat und sogar schadet, wenn wir uns exzessiv gegen Mikroben abschotten. Schon jedes Baby ist auf ihre Hilfe angewiesen, deswegen werden spezifische Bakterien bereits von der Mutter in den Fötus übertragen, und bei natürlicher Geburt ergießt sich geradezu eine Dusche künftiger Symbionten auf den neuen Erdenbürger. Vor allem in den ersten drei Lebensjahren ist der Kontakt mit Mikroben für den Aufbau eines stabilen Mikrobioms wichtig. Natürlich ergeben sich mitunter Anpassungsschwierigkeiten. Doch der Segen überwiegt. Nach der deutschen Vereinigung haben sich Sozialmediziner gewundert, wieso Ostkinder weniger an Asthma und Allergien litten als Westkinder. Warum? Sie hatten in Krippe und Kindergarten mehr Mikroben aufgenommen.

Der sicherste Weg, die mikrobielle Diversität zu erhöhen, so empfehlen Experten, besteht darin, Kinder im Freien und mit Tieren spielen zu lassen. Auf industrielle Fertiggerichte verzichten! Stattdessen viel Vollkornprodukte, Obst und Gemüse - eine Bestätigung empirischer Ergebnisse der Ernährungswissenschaft, die nun eine mikrobiologische Erklärung gefunden haben, denn mit der alternativen Kost werden viele wohltätige Bakterien, Pilze und andere Mikroorganismen aufgenommen. Zurückhaltung mit Antibiotika! Keine übertriebene Sauberkeit! Keine unnötigen Desinfektionsmittel! Unser lieber Freund Desi ist mit 64 Jahren gestorben. Einfach so.