nd-aktuell.de / 08.12.2015 / Kultur

Eine Frage der Perspektive

Seine ästhetische Neugier war unstillbar: Zum 200. Geburtstag des Malers Adolph Menzel

Stefan Amzoll

Adolph Menzel konnte dem Leben nicht nahe genug kommen. In einer Kreidezeichnung von 1886, die einen Mädchenkopf abbildet, kriecht er förmlich unter das Modell und in es hinein, wie ein Fotograf es tut, der alle herkömmlichen Einstellungen hinter sich lässt und einen entschieden verqueren Winkel wählt. Alles an diesem Bild wirkt wie komponiert: die übermäßig ausgestellte Schulter, der Ohrring zwischen Schulter und Ohrmuschel, die Haarsträhnen, Kinn, Mund, Nase, Stirn von unten gesehen, schattenerfüllt, die Schraffur ungemein dünnlinig, selbst die Beschriftung in grauen, geschwungenen Buchstaben am oberen wie unteren Rand trägt anscheinend eine kompositorische Signatur. Analogien zur musikalischen Komposition sind offenkundig. Derlei Perspektiven wiesen schon in die Gefilde einer sich meldenden modernen Malerei.

Wer klein ist, hebt gern napoleonisch Brust und Blick. Menzel sah die Welt am liebsten von oben, denn er war von gnomenhafter, liliputanischer Gestalt. Die Vorteile dieses Zwergendaseins liegen nicht sogleich auf der Hand. Sie sind im Künstlerischen zu suchen. Selten soll Menzel von unten nach oben geschaut haben, um etwas genau und getreu abzubilden. Viel lieber wählte er die Vogelperspektive. Der Kunstwissenschaftler Günter Busch: »Er liebte Fensterblicke aus der Höhe in die Tiefe.«

Als der Maler in den 1860er Jahren an dem riesigen Krönungsgemälde für Wilhelm I. arbeitete, hatte er bei Studien von Realsituationen folgendes Problem: »Ich hatte meinen Standort in der Kirche auf der Tribüne der Mitglieder des Herrenhauses gewählt. Der meist hoch gewachsenen Umstehenden wegen musste ich während der Stunden des feierlichen Aktes auf einem Stuhle stehen, dessen Wackeln meinem hastigen Zeichnen nicht zur Erleichterung diente.«

Andere Standorte waren die der Musik. In deren Berliner Betrieb ging Menzel ein und aus. Er besuchte Konzerte, die Oper, private Musikabende und Veranstaltungen der Berliner Singakademie, um sich Bühnenwerke, Sinfonien, Kammermusik, Passionen, Messen, Motetten oder Oratorien anzuhören. Sein Pensum, Kunst und Musik wahrzunehmen und zu genießen, war folglich alles andere als zwergenhaft.

Adolph Menzel hinterließ ein Riesenwerk aus Gemälden und Zeichnungen der unterschiedlichsten Technik und Art. Er schuf an seinem Hauptarbeitsort Berlin Bild für Bild, Skizze für Skizze, Zeichnung für Zeichnung, oft vom frühen Tag bis zum späten Abend, und sein Name wurde bekannt und bekannter. Der Staat heftete sich den Meister an seinen Tugendrock und ging mit ihm stolz spazieren. Kein anderer Maler, wird berichtet, sei in Deutschland von Staats wegen so geehrt und gefördert worden. Wenige Jahre vor seinem Tod wurde er sogar in den Adelsstand erhoben.

An großen Arbeiten wie dem »Krönungsbild« saß Adolph Menzel manchmal mehrere Jahre, so sehr beschäftigte ihn die Umsetzung des Gegenstandes und so heikel erschien sie ihm. Im übrigen verdiente er in den Meisterjahren nicht schlecht, konnte verreisen, gut wohnen, das Material war nie knapp. Und: Neben einer gewissen Neigung zur preußisch-höfischen Ordnung und Sozietät und der ihr entsprechenden Personnage pflegte er zahlreichen Kontakt zu Literaten, Poeten, Künstlern, Publizisten, zu berühmten Musikern und Komponisten wie Louis Spohr, Brahms, Wagner, Joseph Joachim.

Menzel, mindestens so adelstreu wie Carl Loewe, dessen »Erlkönig« nach Goethe neben dem Schubertschen berühmt geworden war, nur viel begabter und besessener als der Komponist, hat die Aufbahrung der Märzgefallenen 1848 wenigstens gemalt und dabei furchtsame Ahnungen um den Bestand des Preußentums dunkel verbildlicht. Ganz abgekoppelt zu existieren vom Geist eines E. T. A. Hoffmann, Eduard Devrient oder Felix Mendelssohn-Bartholdy um den Gendarmenmarkt herum, auch abgenabelt zu sein von den Ideenströmen, die aus den Zirkeln der Rahel Varnhagen oder Bettina von Arnim flossen, hat sich Menzel nicht gestattet. Erhalten hat sich die Legende, dass bei einer Gesellschaft am kaiserlichen Hof in Berlin Kronprinz Friedrich Wilhelm (der 1888 als Kaiser der 99 Tage das Deutsche Reich geisterhaft regiert hat) den indes noch kleiner gewordenen alten Menzel mitsamt dem Stuhl hochgehoben haben soll, um mit seiner Kraft zu protzen. Der Künstler habe daraufhin scharf entgegnet: »Kaiserliche Hoheit, das verbitte ich mir!« - Vollkommen unterworfen hat sich Menzel nicht.

Der Maler hat Opern von Mozart gesehen und geliebt. Es gibt zwei geradezu unheimlich wirkende Studien zu Mozarts »Don Giovanni«, die er gemacht hat, zwei Szenen, in denen durchsichtige Anmut und undurchsichtiger Fluch aufeinander treffen. In Mischtechnik auf Papier malt er sodann 1851 das Bild »Salonkonzert«, keinen hellen, eher einen düsteren Salon, in dem die Gewänder der Gäste wie Masken, ihre Gesichter geisterhaft erscheinen. Handeln in seinen Bildern Figuren, so sind es reale Menschen, auf die sie sich beziehen.

Sein wohl berühmtestes Bild »Flötenkonzert Friedrich II. in Sanssouci« (1849 bis 1852) wirkt heute wie ein Kuriosum. Es hält die Wiedergabe eines Konzerts fest, das 1750 zur Ehre einer Schwester Friedrichs II. gegeben wurde. Der König bläst manierlich in prunkendem Lichte virtuell die Flöte. Um ihn herum am Cembalo Carl Philip Emanuel Bach, Konzertmeister Franz Benda mit Violine am Kinn, außen Joachim Quantz, seiner Durchlaucht Kompositions- und Flötenlehrer und musikalischer Hofberater. Friedrich, stilisiert als herrschaftlich blasendes Wunder, das er wahrlich nicht gewesen ist. Alle um ihn herum staunen atemlos und stehen stocksteif da. Das Bild wirkt wie eine Parodie.

Rechtzeitig verlässt Menzel die Epoche des Friedericianismus. Gegenwartsstoffe rücken vor, Motive des wirklichen Lebens. Menzel will frei malen können, nicht mehr die höfische Verpackung von Menschen zeichnen, sondern die Menschen selbst, ohne höfischen Druck, ohne die Repression von Kostüm und Orden, von Uniform und Kronleuchter.

Adolph Menzel lebte von 1815 bis 1905. Ein langes Künstlerleben, reich an Beziehungen, an Ängsten, Entbehrungen, Krisen so sehr wie an Ehrung, Wertschätzung, Erfolg. Seine ästhetische Neugier war unstillbar, sein künstlerischer Wille, seine Gestaltungskraft blieben bis ins Alter ungebrochen. Eine Saison gab es für ihn nicht. Sie begann immer und endete nimmer. An diesem Dienstag feiert die Kunstwelt seinen 200. Geburtstag.