Als die BVG sich braun färbte

Historiker haben die Geschichte des Unternehmens während der Nazizeit erforscht

  • Bernd Kammer
  • Lesedauer: 4 Min.
Bücher über die BVG haben meist ihre Technikgeschichte beschrieben. Jetzt liegt erstmals ein Buch über ihre Geschichte in der Nazizeit vor.

Wenn Andreas Nachama in den 60er Jahren mit seiner Mutter Bus oder U-Bahn fuhr, hat er sich immer gewundert, warum sie sich partout nicht setzen und annähernd volle Fahrzeuge erst gar nicht betreten wollte. Erst später wurde ihm klar, dass ihr das als Berliner Jüdin ab Mitte der 30er Jahre verboten war. Sie hatte das so verinnerlicht, dass sie auch nach 1945 diesen Zwang nicht mehr ablegen konnte.

Der heutige Direktor der Stiftung Topographie des Terrors beschreibt diese »Narben der Vergangenheit« in seinem Vorwort zu einem Buch, das erstmals die Rolle der BVG während der Nazizeit aufarbeitet. »Es war das dunkelste Kapitel unserer Geschichte«, sagt Sigrid Evelyn Nikutta, die Vorstandsvorsitzende des Landesunternehmens. Die BVG habe damals schwere Schuld auf sich geladen. Jahrzehntelang sei das nicht thematisiert worden. Es sei erschreckend, wie schnell das Unternehmen - damals mit 28000 Beschäftigten der größte kommunale Betrieb Deutschlands - in die falsche Richtung gesteuert worden sei. »Wenn wir wollen, dass sich so etwas nicht wiederholt, dann müssen wir uns damit beschäftigen.«

Das Buch, das jetzt im Mitteldeutschen Verlag erschienen ist, trägt den Titel »Aus Rot wird Braun« und basiert auf der gleichnamigen Ausstellung, die die BVG 2013 im U-Bahnhof Alexanderplatz präsentierte. Der Historiker Christian Dirks war bei seinen Recherchen über städtische Betriebe in der Nazizeit auf den Straßenbahnschaffner Georg Speyer gestoßen - und auf die große Lücke, die bei der BVG zu diesem Thema klaffte. »Wir wollten herausfinden, wie aus einem roten Musterbetrieb ein brauner werden konnte, wer die Täter, wer die Opfer waren«, so Dirks.

Georg Speyer war Opfer, sein Schicksal zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Am 26. August 1927 tritt der 25-Jährige seinen Dienst an als Schaffner bei der Straßenbahn-Betriebs-GmbH, die zwei Jahre später Teil der Berliner Vekehrs-AG (BVG) wird. Gegründet vom damaligen Verkehrsstadtrat Ernst Reuter (SPD), wird sie schnell zu einem sozialdemokratischen Musterbetrieb. Die Leitung ist sozialdemokratisch orientiert, im Arbeiterrat dominieren die Kommunisten. Die BVG unterhält Sportvereine, bietet den Mitarbeitern Wohnraum - in der Zeit der Weltwirtschaftskrise ein Luxus.

Für Georg Speyer ist es das große Los. Mit seiner Frau und der kleinen Tochter kann er eine Dienstwohnung beziehen. Doch das Glück währt nicht lange - 1936 wird er aus dem Betrieb gejagt. Speyer ist Halbjude. Er ist zwar evangelisch getauft, doch sein Vater ist Jude. Nach den Nürnberger Rassegesetzen gilt er als sogenannter Mischling ersten Grades. Neben der Arbeit verliert er auch seine Wohnung in Britz.

So wie Georg Speyer ergeht es über 3000 BVG-Mitarbeitern. Sie werden entlassen, weil sie Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten waren. Auf den Entlassungspapieren des damaligen Betriebsratsvorsitzenden Johann Flieger ist »Staatsfeind« vermerkt. In der Nacht nach seiner Entlassung im März 1933 wird er in einen Köpenicker SA-Stützpunkt verschleppt und schwer misshandelt. Die Ereignisse gehen als »Köpenicker Blutwoche« in die Geschichte ein.

»1933 ging alles ganz schnell«, sagt Dirks. Der Vorstand und die meisten leitenden Angestellten werden gekündigt oder zumindest entmachtet. Im April wird die Hakenkreuzflagge gehisst. Starker Mann in der BVG ist jetzt Johannes Engel, ein Nazi der ersten Stunde. Das hochrangige SS-Mitglied wird »Staatskommissar für Verkehrswesen in Berlin« und als solcher zugleich Aufsichtsratschef der BVG. Er sorgt dafür, das bevorzugt »alte Kämpfer« eingestellt werden und installiert einen »Sicherheitsdienst«. Die »politische Zuverlässigkeit« der Mitarbeiter wird genau überwacht, der Ton militarisiert. Die Direktoren heißen »Betriebsführer«, die Mitarbeiter »Kameraden« und »Gefolgschaft«. »Aus dem roten Musterbetrieb wird ein brauner«, so Dirks.

Mit Kriegsbeginn gehen auch der BVG die »Kameraden« aus. Vor allem Frauen werden dienstverpflichtet, dann müssen Zwangsarbeiter den Personalmangel ausgleichen. Die BVG unterhält selbst Lager und beschäftigt im Laufe des Krieges 4000 Menschen unter schlimmsten Bedingungen. Sie müssen Bombenschäden beseitigen und zerstörte Gleise reparieren.

Georg Speyer muss in einer Neuköllner Fabrik und später am »Westwall« in Frankreich Zwangsarbeit leisten. 1945 wird er von den Amerikanern befreit. Schon im Oktober meldet er sich bei der BVG zum Dienst zurück. Er bittet, ihn wieder einzustellen, da er sich »wohl gefühlt habe und auch bei meinen Kameraden beliebt war«. Kein Wort der Klage oder des Vorwurfs. Er wird wieder Schaffner und steigt bis zum Personallehrer auf.

Johannes Engel wurde nie belangt. Er musste lediglich auf seine Pension verzichten. »Der mittlere Tätertypus rückte nicht in den Fokus«, sagt Dirks. Warum die braune Vergangenheit auch bei der BVG so lange keine Rolle spielte, kann Nikutta, die seit 2010 Vorstandschefin ist, nicht sagen. »Es wurde viel über die Technik und wenig über die Menschen geschrieben.« Sie hofft, dass Schulen auf das Buch zurückgreifen.

»Aus Rot wird Braun«, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 14,95 Euro.

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