nd-aktuell.de / 12.12.2015 / Kultur / Seite 26

Streit um ein Bakterium

Ausgrabungen belegen: Die Syphilis gab es in Europa schon vor Kolumbus’ Amerikafahrten. Von Martin Koch

Martin Koch

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gehörte sie zu den am meisten gefürchteten Infektionskrankheiten in Europa: die Syphilis, im Volksmund auch »Lustseuche« genannt. Denn der Erreger, das Bakterium »Treponema pallidum« aus der Familie der Spirochäten, wird hauptsächlich bei sexuellen Handlungen übertragen. Prinzipiell kann jedoch jede Art von Schleimhautkontakt zu einer Ansteckung führen, also auch ein intensiver Kuss. Die Erkrankung, die in mehreren Stadien verläuft, führt unbehandelt häufig zu einer Zerstörung des Nervensystems und zum Tod.

Die Liste der tatsächlichen und vorgeblichen Opfer der Syphilis ist lang und liest sich streckenweise wie ein »Who is Who« der Kunst- und Geistesgeschichte: Erasmus von Rotterdam, Ludwig XIV., Franz Schubert, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Heinrich Heine, Gustave Flaubert, Paul Gaugin, Bedřich Smetana, Oscar Wilde, Thomas Woodrow Wilson. In manchen Fällen ist vor allem deshalb Vorsicht geboten, weil für einen zuverlässigen Nachweis der Erkrankung in der Vergangenheit schlicht die diagnostischen Möglichkeiten fehlten.

Ihren Namen bekam die Seuche 1530 durch ein Gedicht des italienischen Arztes Girolamo Fracastoro. Darin wird der Schafhirte Syphilus wegen Gotteslästerung mit einer Krankheit gestraft, die erstmals 1493 in einigen spanischen Hafenstädten aufgetreten war. Von dort verbreitete sie sich über das westliche Mittelmeergebiet. 1494 fiel der französische König Karl VIII. mit einem Söldnerheer in Italien ein und besetzte Neapel. Dabei kam es zu einem Syphilisausbruch unter Karls Soldaten, die sich jedoch bald wieder aus Neapel zurückzogen und den Erreger in ihre Herkunftsländer trugen. »In der Folge entbrannte eine heftige Debatte um die Namensrechte für die Seuche - das heißt um das Recht, die Krankheit nach den eigenen Feinden zu benennen«, schreibt der US-Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould. Tatsächlich wurde die Syphilis je nach Landstrich als italienische, spanische, deutsche oder englische Krankheit bezeichnet. Besonders beliebt in Europa war der Name »Franzosenkrankheit« (Morbus Gallicus), der auf den Feldzug Karls VIII. ebenso zurückging wie auf das Vorurteil, dass Franzosen ein besonders ausschweifendes Sexualleben führten. Mediziner gaben der Syphilis schließlich den lateinischen Namen »Lues«, was nichts anderes bedeutet als »Seuche«.

Lange hegten Historiker die Vermutung, dass Christoph Kolumbus und dessen Seeleute den Lues-Erreger von Amerika nach Europa eingeschleppt hätten. Im Volksmund war sogar von einer Strafe Gottes die Rede - für die Verbrechen der spanischen Eroberer an den amerikanischen Ureinwohnern. Eine aktuelle Untersuchung von Skeletten aus Österreich nährt jedoch erhebliche Zweifel an dieser Hypothese. Ein Forscherteam um Karl Großschmidt und Fabian Kanz von der Medizinischen Universität Wien hat bei archäologischen Ausgrabungen in St. Pölten mehrere Fälle von kongenitaler Syphilis bereits für die Zeit von 1320 bis 1390 morphologisch dokumentiert. Die kongenitale Syphilis, die von der schwangeren Mutter auf das ungeborene Kind übertragen wird, hinterlässt deutliche Veränderungen im Gebiss. »Wir konnten die sogenannten Hutchinson-Zähne mit zentralen Einkerbungen und konvergierenden Rändern sowie die Maulbeer- oder Knospenform bei Mahlzähnen nachweisen, die charakteristisch für die Syphilis sind«, so die Forscher, die ihre Studie im »Journal of Biological and Clinical Anthropology« (Bd. 72/4, S. 451) veröffentlichten.

Auch Skelettfunde aus England und Italien deuten darauf hin, dass die Syphilis bereits im frühen Mittelalter in Europa aufgetreten war. 2003 gaben Göttinger Paläopathologen überdies bekannt, dass sie anhand von 4000 Jahre alten Knochen aus Santa Barbara (US-Bundesstaat Kalifornien) eine zuvor unbekannte Variante der Syphilis entdeckt hätten. Der Erreger dieser Krankheit könnte von spanischen Eroberern durchaus nach Europa eingeschleppt worden sein und sich dort rasch verbreitet haben. Denn die Immunabwehr der damaligen Europäer war auf den neuen Erregerstamm nicht vorbereitet. Das erklärt auch, warum sich der erste Syphilis-Ausbruch kurz nach Kolumbus’ Rückkehr aus Amerika ereignete. Frühere europäische Epidemien von ähnlichem Ausmaß sind dagegen nicht bekannt, zumindest nicht nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis.

Was für andere Krankheiten gilt, insbesondere für die Pest, trifft vermutlich auch auf die Syphilis zu. Sie war ursprünglich nicht jene gefährliche Seuche, als die sie später in die Geschichte einging. Manche Wissenschaftler behaupten sogar, dass die Syphilis sowohl im präkolumbischen Amerika als auch im alten Griechenland als harmlose Hautkrankheit existiert habe. Erst im Laufe der Jahrhunderte, zum Beispiel im Zuge von Klimaveränderungen oder einer veränderten Körperhygiene, sei der Erreger zum Auslöser der oftmals tödlichen »Lustseuche« mutiert.

Nachdem man die Syphilis lange erfolglos mit giftigem Quecksilber behandelt hatte, entwickelte der Immunologe Paul Ehrlich 1909 mit Salvarsan das erste wirksame Medikament gegen den Erreger der Krankheit. Heute lässt sich die Syphilis durch die Gabe von Antibiotika in einem frühen Stadium relativ problemlos behandeln. Das Mittel der Wahl ist nach wie vor Penicillin, gegen das der Erreger auch nach Jahrzehnten noch keine Resistenzen ausgebildet hat. Gleichwohl gilt die Seuche bis heute nicht als ausgerottet. Nach einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkranken daran weltweit jedes Jahr etwa 12 Millionen Menschen. Dabei sah es nach dem Aufkommen von Aids zunächst so aus, als ließe sich durch die Verwendung von Kondomen nicht nur die Verbreitung des HI-Virus langfristig stoppen, sondern auch die des Syphilis-Erregers.

Tatsächlich ging in den 1990er Jahren die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland deutlich zurück. Seit einigen Jahren nimmt sie jedoch wieder zu, was nicht zuletzt der inzwischen vor allem bei jungen Menschen verbreiteten »Kondommüdigkeit« geschuldet ist. Im Jahr 2001 wurden nach einem Bericht des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI) 1697 Syphilis-Fälle gezählt. 2004 stieg die Zahl der Neuerkrankungen auf 3352. Inzwischen liegt sie bei über 5700.

Diese Entwicklung sei insofern besorgniserregend, meint die Epidemiologin Viviane Bremer, als das Syphilis-Bakterium die Schleimhäute schädige und so dem HI-Virus ein leichteres Eindringen in den Körper ermögliche. Doch das ist noch nicht alles. Die Immunreaktion, die durch die Syphilis ausgelöst wird, kann laut Bremer bei HIV-infizierten Personen sogar zur Vermehrung der Aidserreger führen und damit die Behandlung der noch immer unheilbaren Immunschwäche zusätzlich erschweren.