nd-aktuell.de / 24.12.2015 / Reise / Seite 10

Stern der Hoffnung für die Welt

Die 1727 gegründete Herrnhuter Brüdergemeine ist bis heute weltweit tätig.

Heidi Diehl

Christian David hat in seinem Leben schon viele Bäume geschlagen, doch der, den er am 17. Juni 1722 fällt, ist ein ganz besonderer: Für den Zimmermann und die anderen neun Männer, Frauen und Kinder bedeutet er das gute Ende einer langen Flucht aus ihrer mährischen Heimat, wo sie wegen ihres protestantischen Glaubens verfolgt wurden. Dieser Stamm ist der erste für ihr neues Zuhause, das sie auf dem Landgut von Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf im sächsischen Berthelsdorf errichten werden, wo ihnen der vom Pietismus geprägte Religionsreformer Zuflucht gewährte.

Bald schon geben die neuen Siedler ihrem Ort den Namen Herrnhut, weil sie hier, unter der »Obhut des Herrn«, endlich uneingeschränkt ihren Glauben leben dürfen. Zinzendorf, der als Jurist am sächsischen Königshof angestellt ist, zieht 1727 mit seiner Frau nach Herrnhut und gründet dort die Herrnhuter Brüdergemeine, eine aus der böhmischen Reformation kommende überkonfessionell-christliche Glaubensbewegung, die vom Protestantismus und Pietismus geprägt wird. Der Ruf der Gemeinschaft, die ihren Glauben in Freiheit und Verantwortung für den Nächsten lebt, verbreitet sich schnell und zieht immer mehr Menschen an.

Wie schon so oft sitzen die Glaubensbrüder auch am 3. Mai 1728 in ihrem Kirchensaal zusammen, als der 28-jährige Zinzendorf sagt, er werde ihnen Gottes Wort in Form einer Losung für den folgenden Tag mit auf den Heimweg geben. Das wiederholt er von da ab Tag für Tag, die Brüder lernen sie auswendig und tragen sie von Haus zu Haus. 1731 erscheinen »Die Losungen« fürs Jahr erstmals in gedruckter Form und seitdem ununterbrochen bis heute - 2016 zum 286. Mal. Alljährlich werden sie für drei Jahre im Voraus im Herrnhuter Vogtshof, dem Direktionssitz der Brüder-Unität, aus rund 1830 Bibelworten gezogen: für jeden Tag je ein Spruch aus dem Alten und aus dem Neuen Testament, begleitet von einem Liedvers oder einem Gebet. Inzwischen erscheinen sie in mehr als 50 Sprachen.

Wer nun glaubt, dass »Die Losungen« nur Gläubigen durch den Tag helfen, irrt gewaltig. Als Thüringens LINKEN-Ministerpräsident Bodo Ramelow in diesem Frühjahr den Streit zwischen der Bahn und der GDL schlichten sollte, begann er keine Sitzung, ohne die jeweilige Tageslosung zu verlesen.

Das hätte Zinzendorf gefallen, der sein Leben lang Nächstenliebe, Toleranz und ein friedliches Miteinander predigte, egal, welchem Glauben man angehört. Auch er musste in den Anfangsjahren der Gemeine nicht selten die Rolle des Schlichters übernehmen. Denn so manchmal gerieten die sich immer zahlreicher ansiedelnden Menschen in Streit über den richtigen oder falschen Glauben. Zinzendorf vermittelte, setzte nachdrücklich und am Ende erfolgreich auf Gewissensfreiheit und Toleranz. Die Kunde davon verbreitete sich weit über die Grenzen Sachsens hinaus. Eines Tages im Jahr 1731 war ein Mann zu Gast im Ort, der aus der dänischen Kolonie St. Thomas in der Karibik stammte. Was er berichtete, erschütterte die Gemeine zutiefst: Sie hörte von Einheimischen, die als Sklaven für die Kolonialherren schuften müssen und wie Tiere gehalten werden. Fassungslos waren die Männer und Frauen darüber, dass die Plantagenbesitzer, die sich Christen nannten, ihre Sklaven weder als Menschen anerkennen, noch bereit waren, ihnen den Weg zum Christentum zu zeigen.

Man müsse sich diesen Geknechteten, um die sich niemand kümmert, zuwenden, waren sich die Herrnhuter schnell einig. Am 21. August 1732 machten sich zwei Mitglieder der Brüdergemeine auf den Weg nach St. Thomas, um den Sklaven das Wort Gottes zu bringen - das war der Beginn der Herrnhuter Missionsarbeit, die sich bald schon über alle Erdteile erstreckte. Dabei wollten die Missionare von Anbeginn an nicht nur den christlichen Glauben verbreiten, sondern auch die Lebensumstände der Einheimischen verbessern, ihnen Arbeit, Bildung und medizinische Hilfe geben und sie befähigen, ihr Leben in eigene Hände zu nehmen.

Eine der ersten Missionsstationen entstand in Genadendal am Westkap Südafrikas. Hier gründeten die Herrnhuter die erste südafrikanische Ausbildungsschule für Lehrer, sorgten für Bildung von Jungen und Mädchen, siedelten Handwerk und Gewerbe an. Nelson Mandela, der 1995 den Ort besuchte, war so beeindruckt von dem, was die Missionare dort geleistet haben, dass er seinem Präsidentenamtssitz in Kapstadt den Namen »Genadendal« gab.

Auch heute noch ist die Herrnhuter Missionshilfe in 15 Ländern aktiv, weltweit gehören der Brüder-Unität mehr als eine Million Mitglieder in 50 Ländern an. Allein 800 000 sind es in Tansania, wo sie den Rang einer Volkskirche hat. In Europa gibt es rund 23 000 Mitglieder, 5500 davon im deutschsprachigen Raum. Ihren Hauptsitz hat die Brüder-Unität nach wie vor in Herrnhut. Rund 500 der etwa 6000 Einwohner zählenden Stadt gehören ihr an.

Obwohl der Ort 1945 fast vollständig einem Brand zum Opfer fiel, atmet Herrnhut an allen Ecken den Geist Zinzendorfs und seiner visionären Missionare. Insbesondere im Völkerkundemuseum, wo man sehr anschaulich nacherleben kann, wie diese in den verschiedensten Ländern mit den Einheimischen zusammenlebten und -arbeiteten. Darüber führten sie auch akribisch Protokoll. Fast nichts davon ging verloren und füllt heute zig Magazine und 2500 Regalmeter im für jeden zugänglichen Unitätsarchiv: Lebensläufe, Tagebücher, ganze Nachlässe, Tausende Bücher, Gemälde, persönliche Gegenstände, Karten, geologische Sammlungen, Fotos und als besondere Rarität das einzige noch existierende Exemplar der ersten gedruckten Losungen. Für den 38-jährigen Archivar Olaf Nippe sowie viele Wissenschaftler und Historiker sind die Sammlungen eine unerschöpfliche Fundgrube, die immer wieder Überraschendes zutage fördert.

Viele Missionare lebten jahrelang in der Fremde, doch irgendwann kehrten die meisten nach Herrnhut zurück. Dort fanden sie ihre letzte Ruhe fanden sie auf dem 1730 angelegten Gottesacker der Brüdergemeine am Fuße des Hutbergs, der sich ganz wesentlich von normalen Friedhöfen unterscheidet. Ein Hauptweg trennt den Gottesacker in zwei Hälften: Rechts sind die Ruheplätze der Frauen (Schwestern), links die der Männer (Brüder). Es gibt keine Familiengräber, keinen Schmuck, keine Grabhügel, keine Bepflanzungen. Schlichte, ebenerdig auf dem Rasen liegende Steinplatten mit Name, Geburtsort und Alter sollen die Gleichheit aller im Tode und vor Gott symbolisieren.

Wenn sich das Jahr dem Ende zuneigt, kommt irgendwie jeder mit der Brüdergemeine in Berührung, selbst diejenigen, die bislang noch nie von ihr gehört haben. Denn überall in den Städten und Häusern leuchtet dann der Herrnhuter Stern. Entstanden ist er Anfang des 19. Jahrhunderts eher zufällig: Ein Mathematiklehrer in einer der Internatsschulen für die Kinder der Missionare, der ganz offensichtlich am mathematischen Unverständnis seiner Schüler verzweifelte, überlegte sich, wie er ihnen die Berechnung von geometrischen Figuren leicht verständlich beibringen könne. Die Lösung fand er in der Form von Dreiecken. Und siehe da, die Schüler begriffen das System. Mehr noch, sie bastelten aus den Dreiecken Sterne und hängten sie in ihren Schlafräumen auf, wo ihr Licht den Kindern das Heimweh linderte. Bald schon leuchteten zur Weihnachtszeit in den Missionsstationen auf allen Erdteilen die Trost und Hoffnung gebenden Sterne. Einen Exportschlager aber machte erst der Unternehmer Pieter Hendrik Verbeek daraus, der 1925 einen stabilen, zusammensetzbaren Stern zum Patent anmeldete, der sich verpacken und versenden ließ. Er hatte - wie der heutige - 17 viereckige und acht dreieckige Zacken. Damals noch ausschließlich weiße und rote, was Reinheit und das Blut Christi symbolisieren sollte. Heute treten alljährlich rund 600 000 Sterne in verschiedenen Größen und Farben von Herrnhut aus ihren Weg in alle Himmelsrichtungen an.

Vor wenigen Wochen erreichten einige auch das Europäische Parlament in Brüssel, die der Abgeordnete Arne Gericke von der Familien-Partei Deutschlands an Kollegen aus aller Welt mit der Bitte verschenkte, sie in ihren Bürofenstern aufzuhängen - als ein leuchtendes Zeichen der Solidarität mit den über 60 Millionen Flüchtlingen weltweit. Inzwischen strahlen die Herrnhuter Sterne in vielen Fenstern als ein Symbol des Friedens, der Hoffnung und der Nächstenliebe.