nd-aktuell.de / 30.12.2015 / Kultur / Seite 14

Chronik eines verschobenen Todes

Lemmy Kilmister ist tot

Tobias Riegel
Das Amphetamin-Monster, der Bühnen-Orkan, der Jack-Daniels-Jünger, der vermeintlich unzerstörbare britische Ur-Prolet und warmherzige Hard-Rock-Opa Lemmy Kilmister ist am Montag 70-jährig verstorben.

Nun musste er doch keinen Atomkrieg mehr überleben, um sich anschließend die verwüstete Welt mit den Kakerlaken zu teilen, wie es ihm oft prophezeit wurde. Ein früher Tod wäre bei seinem Lebenswandel zwar keineswegs überraschend gewesen. Nachdem er aber dem Sensenmann jahrzehntelang immer wieder johlend und saufend von der Schippe gesprungen war, hat nun selbst sein relativ spätes Dahinscheiden etwas Unerhörtes, als sei der endgültige Abschied nur ein Irrtum. Doch es ist wahr: Das Amphetamin-Monster, der Bühnen-Orkan, der Jack-Daniels-Jünger, der vermeintlich unzerstörbare britische Ur-Prolet und warmherzige Hard-Rock-Opa Lemmy Kilmister ist am Montag 70-jährig verstorben. Die Chronik seines immer wieder nur verschobenen öffentlichen Todes ist beendet.

Kilmister, der schon früh ungefragt auf den vermeintlichen Kumpel »Lemmy« reduziert wurde, war immer mehr als seine Band Motörhead, und Motörhead waren mehr als eine Band. Wie etwa die Ramones symbolisierte das englische Rock-Trio nicht nur durch die Musik, sondern zusätzlich als Gesamtkunstwerk aus Bandlogos und Lebenswandel eine raue, von Moden unbeirrte und bei aller Härte fast schon bescheidene und von Firlefanz befreite Geradlinigkeit. Dabei fühlten sich die 1975 gegründeten Motörhead weder bei den zur Touristenattraktion verkommenen Paradiesvogel-Punks noch im Lager der auftoupierten Heavy-Metal-Glamrocker zu Hause. Darum schlängelte sich auch ihre Musik über vier Jahrzehnte zwischen diesen beiden Polen entlang: hart, schnörkellos und schwer zu klassifizieren - und darum für verschiedenste Subkulturen akzeptabel.

Lemmy hätte auch alleine auf der Bühne stehen können, niemals wird die Band mit anderem Sänger auftreten können. Die Mitmusiker waren stets austauschbar. So lange der untersetzte Pastorensohn - breitbeinig und den Kopf empor gereckt - seinen kehligen Gesang abfeuerte, seinen von Speed, Whiskey und Zigaretten ruinierten Schlund wie ein rostiges Waschbrett malträtierte - so lange war es Motörhead. Lemmy war nicht nur wegen seines Alters eine Figur einer vergangenen Ära - sein stures, etwas klischeebehaftetes und erst sehr spät gelockertes Festhalten am Exzess und der öffentlichen Selbstzerstörung passt nicht in diesen veganen und zigarettenlosen Zeitgeist, der selbst jugendliche Rebellen in brave Vorbildrollen pressen möchte.

Bei seinem Anblick verspürte man den Geschmack von Rost und Knochen. Der Mann zupfte nicht die Saiten, sondern bearbeitete seinen verzerrten Bass mit Powerchords, wie man das sonst nur bei Hard-Rock-Gitarristen sieht. Und doch könnte nichts in größerem Widerspruch stehen als das furchteinflößende Band-Logo und die vielfach kolportierte sanfte und bedächtig-kluge Ader Lemmys. Am Ende ging es so schnell wie ein Motörhead-Song: Nur zwei Tage nach seiner Krebsdiagnose starb der an Heiligabend geborene Lemmy Kilmister in Los Angeles.