nd-aktuell.de / 04.01.2016 / Kultur / Seite 15

Diener am Kunstwerk

Beethoven in Leipzig

Werner Wolf

Die seit 1945 alljährlich zum Jahresende im Leipziger Gewandhaus erklingende neunte Sinfonie Ludwig van Beethovens ergreift aufgeschlossene Musikhörer stets von Neuem. Doch diesmal berührten der Tod des langjährigen Gewandhauskapellmeisters Kurt Masur und die warmherzigen Gedenkworte des Gerwandhaus-Ehrendirigenten Herbert Blomstedt die Konzertbesucher, bevor der erste Ton erklang.

Schillers und Beethovens Vision brüderlich vereinter Menschen war für Kurt Masur stets eine verpflichtende Botschaft. Sein Eintreten für Menschlichkeit bewies Masur aber nicht nur auf dem Dirigentenpodium, sondern auch im gesellschaftlichen Leben. Das bewährte sich vor allem in der hochgespannten Atmosphäre des 9. Oktober 1989. Zwischen der Hauptprobe und dem Festkonzert wirkte er als Prominentester der »Leipziger Sechs« (drei von ihnen Sekretäre der SED-Bezirksleitung) maßgeblich am Aufruf zur Gewaltlosigkeit mit, der buchstäblich in letzter Minute ein Blutvergießen verhinderte.

Dieses humanistische Streben Kurt Masurs zeichnet auch das Wirken Herbert Blomstedts aus. So erklang die »Neunte« mit dem Gewandhausorchester, dem Leipziger Rundfunkchor und dem Gewandhaus-Kinderchor sowie den großartigen Solisten Simone Saturová, Mihoku Fujimura, Christian Elsner und Christian Gerhaher durchaus im Sinne Kurt Masurs, auch wenn da Manches anders klang, manches Tempo zügiger angelegt war.

Masur sah sich als Interpret ganz der Tradition seiner großen Vorgänger verpflichtet. Blomstedt kennt das alles genau, hat sich aber auch mit den in den letzten 30 Jahren ans Licht beförderten Erkenntnissen beschäftigt. Im Unterschied zu manchen Traditionsstürmern versteht er es, Dank seiner Altersweisheit und seiner Hochachtung vor früheren Generationen, neue Erkenntnisse sinnvoll mit Überliefertem zu verbinden, Überliefertes organisch weiterzuentwickeln.

Das betrifft nicht zuletzt Beethovens stimmige, aber - infolge von Schreib- und Druckfehlern, aber auch aus mangelnden Kenntnissen - umstrittenen Tempovorgaben. Blomstedt besitzt die geistige Überlegenheit, ihnen zu folgen, ohne dass etwas gehetzt, getrieben klingt. So behalten bei ihm der erste Abschnitt des langsamen Satzes und dessen Variationen ihre wundervolle, von innerer Ruhe erfüllte Gesanglichkeit, klingt der zweite wiegend, gelöst, entspannt. Der erste Satz erhält seine Kraft nicht durch bloße Lautstärke sondern durch seine innere Dynamik. Auch im stürmischen zweiten Satz waltet Blomstedts geistige Konzentration. Beglückend, mit welcher Überlegenheit der 88-jährige Maestro im Finalsatz das stürmische, von Freude erfüllte Vorwärtsdängen und das zur Besinnung innehaltende Hymnische gestaltet.

Kurt Masur könnte zu dieser Aufführung gesagt haben, es war zwar Manches anders, aber es war erfüllt von unserer gemeinsamen Haltung als Diener am Kunstwerk und unserem humanistischen Streben.