nd-aktuell.de / 04.11.2006 / Kultur
Südlich und nördlich der Donau-Grenze
Es fehlt offensichtlich an Brücken zwischen den künftigen EU-Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien / Auch der Fährverkehr liegt im Argen, aber nicht nur der ...
Hannes Hofbauer
Von Ostserbien Richtung Bulgarien verlieren sich Dörfer und Felder zunehmend in ein Niemandsland. Der bulgarische Zollbeamte will uns nicht glauben, dass wir nach Widin wollen. Niemand denkt heutzutage daran, in die einstige Vorzeigestadt der kurzen Periode einer bulgarischen Industrialisierung zu fahren. Im Gegenteil: Wer kann, zieht aus Widin weg, nach Sofia oder - noch besser - in Richtung »Europa«, wie man die westlichen Länder des Kontinents hier wie dort tituliert.
Gäbe es so etwas wie einen Weltrekord im Schrumpfen von Städten - Widin hätte Chancen auf diese »Bestleistung«. Seit Anfang der 90er Jahre hat die Donaustadt zwei Drittel ihrer Einwohner verloren. Schätzungsweise 50 000 der ehedem 70 000 Bewohner haben die Flucht ergriffen. Zurück blieb eine Industriewüste rund um den früheren Leitbetrieb »Vidahim«, dessen großteils entglaste Fassaden sich kilometerlang an der Ausfallstraße Richtung Sofia erstrecken. Kein einziger der früher 4000 Arbeitsplätze hat die Wende zum Kapitalismus überdauert.
Geprägt ist die Stadt von ihrer historischen Festung, einer riesigen Anlage, die als römisches Fort gebaut wurde und im 10. Jahrhundert unter dem legendenumwobenen Tarkan Glad als Hochsitz des ersten bulgarischen Fürstentums in die Nationalgeschichte einging. Die Osmanen bauten »Baba Vida« im 17. Jahrhundert zu einer wahrhaften Soldatenstadt aus. Heute führen vier Tore durch die fast vollständig erhalten gebliebenen Steinmauern. Dem Inneren des weitflächigen Areals geben Plattensiedlungen, die seit 15 Jahren mangels Bewohnern in sich zusammenfallen, ein morbides Gepräge, wie es sonst in Europa kaum zu erleben ist.
Auf dem Weg zur Nikolai-Kirche, unmittelbar hinter der einzigen erhaltenen Moschee der einst muslimisch-türkischen Metropole, begegnen wir einer freundlichen älteren Frau in jugendlichem Hippie-Outfit, die sich als Sängerin einer bekannten bulgarischen Popgruppe der glorreichen 70er Jahre erweist. Mit ihrer Band »Haemos« - so die antike Bezeichnung des Balkan-Gebirges - trat sie nicht nur in Klubs am Schwarzen Meer auf, sondern auch in Deutschland, Frankreich und England. Weil sie uns nicht auf der Straße stehen lassen will, lädt sie uns kurz entschlossen zu Kaffee und Kuchen in das Häuschen ihrer Cousine ein.
Und so sitzen wir mit zwei weiteren älteren Damen in einem verwunschenen Garten, den man nach deutschen Kriterien auch als verwahrlost bezeichnen könnte, und genießen die bulgarische Gastfreundschaft. Englisch, Französisch und Russisch wechseln einander ab, wobei nicht alle immer alles verstehen. Hauptsache, man versteht sich.
Nicht einmal die Popen profitieren
Zur Sonntagsmesse finden sich in der größten Kirche der Stadt, dem Heiligen Dimitri geweiht, gerade einmal drei Dutzend Menschen ein, zwei Drittel davon Frauen jenseits der 70. Als Begleiterin hat der Priester ein uraltes Mütterchen, das sich schon schwer tut, als sie die Standkerze vor die Wand mit den Heiligenbildern über drei Stufen hinunter schleppen muss. Die Messfeier entspricht offenbar dem Zustand der Gesellschaft außerhalb des Gotteshauses und bestätigt die Worte der ehemaligen Popsängerin: »Die Menschen von Widin sind total apathisch gegenüber den neuen Verhältnissen«. Nicht einmal die Popen haben daraus für ihr Gewerbe einen Vorteil ziehen können.
Rund um Widin, dessen Industrieruinen die Stadt förmlich einkreisen, herrscht landwirtschaftliche Brache. Bis weit ins Hinterland der Donau, die ersten Hänge der Stara Planina hinauf, die wir in Westeuropa Balkan nennen, sind nur sehr vereinzelt mittelgroße Parzellen bewirtschaftet. Hier ein Sonnenblumenfeld, dort ein umgeackertes Stück Boden nach der Getreideernte - ansonsten schießt seit mehr als einem Jahrzehnt das Unkraut meterhoch ins Kraut, Sträucher und kleine Bäume wachsen auf den vormals staatlichen Gütern, deren Privatisierung hier im Westen Bulgariens nicht gelungen ist.
Die Straßen von der Donau ins Gebirge sind aufgebrochener Asphalt, weswegen hier kaum mehr Autos unterwegs sind. Pferde- und von Mulis gezogene Fuhrwerke rütteln sich ihre Bahn zwischen Steinen und Teerbrocken. Vor und hinter den dörflichen Schulgebäuden hatte man einst sogenannte liegende Polizisten gelegt, 15 Zentimeter hohe, abgerundete Betonschwellen, die den Autolenker am Vorbeirasen hinderten. Heute wirkt diese bauliche Maßnahme wie ein Hohn: Die Straße selbst ist zum Hindernis geworden.
Hindernisreich gestaltet sich auch die Ausreise aus Bulgarien: Das Zollgebäude an der Donau wirkt verwaist, es dauert gut zehn Minuten, bis ein Beamter aus dem Häuschen tritt. Zwei Stempel, und weiter geht die Fahrt, allerdings nur 200 Meter, bis zur Donaufähre, die hinüber ins rumänische Calafat führen soll. Erst hier merkt man, dass die relative Eile des bulgarischen Zöllners nicht angebracht war. Gähnende Leere am Fähranleger. Ein Fährmann winkt seelenruhig ab, als wir das Auto aufs Schiff lenken wollen. Mindestens zwei, drei »Camione« wolle er noch abwarten, »große Camione«, bis er den Kahn in Bewegung setzen würde.
Eine mehrstündige Wartezeit nutzen wir, um uns über den wirtschaftlichen Austausch am Rande EU-Europas Gedanken zu machen. Eine einzige Brücke zwischen Russe und Giurgiu verbindet auf 470 Donaukilometern die beiden künftigen EU-Mitgliedstaaten, dazu sechs Fähren, die anscheinend allesamt keine festen Überfahrtszeiten haben, sondern so lange warten, bis »zwei, drei Camione« zusammenkommen, die den Strom überqueren wollen. Zwischen Widin und Calafat dauert dieser Prozess an einem Montagmorgen zweieinhalb Stunden. Um die Abfahrt zu beschleunigen, hatten wir unser Auto gegen die Anweisung des Kapitäns auf das klapprige Gefährt gestellt und zwei endlich angekommene polnische Fernfahrer überzeugt, mit ihren Lkw dasselbe zu tun. Ihnen hatte das Personal gesagt, man würde erst ablegen, wenn vier »Camione« die Überfahrt wünschten. Dann allerdings hätte kaum mehr ein Pkw auf der kleinen Fähre Platz gehabt.
Die Überfahrt dauert keine 15 Minuten. 23 Euro Gebühr für einen Pkw mit zwei Insassen erklären, warum sich hier kein kleiner Grenzverkehr entwickeln kann: Für viele in Widin oder Calafat wäre das ein Zehntel ihres Monatslohns. Kein Wunder, dass der Fährverkehr im Argen liegt.
Wo einst die Römer kämpften und kurten
Donauaufwärts macht auf rumänischer Seite die alte Römerfestung Turnu Severin auf den ersten Blick einen relativ prosperierenden Eindruck. Bis man den Hafen gesehen hat. Von einem knappen Dutzend Anlegestellen werden an einem Arbeitstag im September 2006 gerade einmal zwei genutzt.
Vor bald 2000 Jahren hatte der römische Imperator Trajan, dem hier jede Menge Statuen, Schulen und öffentliche Gebäude gewidmet sind, eine steinerne Brücke über die Donau bauen lassen. Sie diente vornehmlich militärischen Zwecken und erfüllte sie im Sinne Roms auch. Einen jahrhundertelangen Grenzkampf mit den Dakern entschied Heerführer Trajan nicht zuletzt wegen des Nachschubs über die Brücke für sich. Der geschlagene Dakerfürst Decebal wird heute noch, wie das bei anderen Völkern im Südosten Europas ebenfalls üblich ist, trotz (oder wegen?) seiner Niederlage als Held geehrt.
Von Trajans Brücke sind - nach der Sprengung durch die Römer - noch zwei Pfeiler auf rumänischer und einer auf serbischer Seite zu sehen. Eine Brücke über die Donau hat an dieser Stelle seit dem Jahr 106 kein Regime mehr zustande gebracht. Und von den Versprechungen der Europäischen Union nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien, im Zuge des Ausbaus der europäischen Verkehrswege die Donau bei Widin zu überbrücken, hat man auch lange nichts gehört.
Turnu Severin lebt, zumindest was eine schmale Oberschicht an Ingenieuren betrifft, von der Produktion schweren Wassers. Es wird im rumänischen Atomkraftwerk Cernavoda gebraucht, das 1996 ans Netz ging. Aber auch in ferne Länder exportiert man, etwa nach Kanada, dessen Atomtechnologie in Cernavoda zum Einsatz kam.
Unseren Kaffee nehmen wir in der Bar »Ada Kaleh«, deren Name an eine mehrheitlich von Türken bewohnte, flussaufwärts gelegene Donauinsel erinnert, die der großen Flutung im Jahr 1972 zum Opfer fiel. Der Bau des Wasserkraftwerks am Eisernen Tor hat diese »Pforte des Orients« für immer versinken lassen. Die Bewohner sind - je nach nationaler Zugehörigkeit - in die Türkei oder in die neu gebaute Stadt Orsova umgesiedelt worden.
Von eben diesem Orsova machen wir einen Abstecher in das nördlich gelegene Herculesbad. Noch Mitte der 90er Jahre hatte ein Kollege von dem Heilbad geschwärmt, das bereits die Römer kannten. Im frühen 19. Jahrhundert besuchten Könige und Fürsten aus ganz Europa das Herculaneum, um sich mit Schwefel- und Salzbädern gesund pflegen zu lassen. Im Herbst 2006 traut man seinen Augen nicht. Die historischen Hotelanlagen brechen förmlich auseinander. Dazwischen flanieren in Neubausilos aus den 70ern untergebrachte rumänische Kassenpatienten. Niemand nimmt an dem Verfall Anstoß, der hier seit nicht einmal zehn Jahren zur Normalität geworden ist.
Im einzigen renovierten Kurkomplex, Baujahr 1937, erzählt uns der Portier von besseren Zeiten. Unter Nicolae Ceausescu, so der etwa 60-Jährige, sei hier in Baile Herculane alles in Betrieb gewesen. Penibel schreibt er Hotels und ihre Kapazitäten auf eine Liste: Diana Hotel - 400 Betten, Afrodite - 400 Betten, Roman - 301 Betten, Komplex Apollo - 350 Betten ... 5500 Kurgäste wurden damals zugleich betreut, heute sind es gerade einmal 2000, schätzt er. Warum das so gekommen ist? Der Portier nennt nur einen Namen: Iosif Armas, Spekulant und Parlamentsabgeordneter. Dieser Herr habe Mitte der 90er Jahre den halben Ort gekauft und seither nichts mehr damit angefangen. Warum? Kopfschütteln ... und ein wenig Wehmut im Gesichtsausdruck des Portiers.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/99673.suedlich-und-noerdlich-der-donau-grenze.html