nd-aktuell.de / 06.01.2016 / Berlin / Seite 9

Antisemitismus auf konstant hohem Niveau

Im vergangenen Jahr wurden über 200 judenfeindliche Vorfälle registriert / Aufklärungsquote der Polizei steigt

Sebastian Bähr
»Hitler hat leider nicht alle Juden umgebracht.« Antisemitismus zeigte sich in Berlin 2015 auf verschiedenste Art und Weise. Volksverhetzung und körperliche Angriffe sind unter den Vorfällen zu finden.

Frühmorgens in einer Spandauer Kita. Ein fünfjähriger Junge sagt zu einem anderen: »Meine Mama hat erzählt, dass Hitler nicht alle Juden umgebracht hat. Gott hilft, dass die Juden vernichtet werden.« Es kommt zu einem anschließenden Gespräch zwischen den Mitarbeitern der Kita. Eine Erzieherin bestätigt: »Hitler hat leider nicht alle Juden umgebracht.« Alltag in Berlin?

Dieser Vorfall aus dem vergangenen Jahr ist nur einer von vielen, berichtet Benjamin Steinitz von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS). Für das vergangene Jahr hat die unabhängige Dokumentationsstelle vorläufig 112 antisemitische Vorfälle in Berlin registriert, welche nicht von der Polizei erfasst wurden. Darunter fallen 15 Angriffe, 24 Bedrohungen und 32 Sachbeschädigungen. »2015 gingen auf www.report-antisemitism.de im Vergleich zum Vorjahr acht mal so viele Meldungen ein«, sagt Steinitz.

Die Berliner Polizei hat von Januar bis Anfang Dezember 134 antisemitische Vorfälle registriert, womit die Gesamtzahl der bekannten Taten weit über 200 liegt. Nach Kenntnis des Senats waren in 117 der ihm bekannten Fälle extreme Rechte die Täter, in 14 Fällen Personen mit türkisch-arabischer Herkunft. Die Aufklärungsquote der Polizei lag nach Selbstauskunft bei 40 Prozent und damit etwas höher als in den vorangegangenen Jahren.

Der Antisemitismus in der Hauptstadt zeigte sich im vergangenen Jahr auf vielfältigste Art und Weise. Dies wurde besonders am 9. November, dem 77. Jahrestag der Novemberpogrome deutlich. Unbekannte beschmierten zwei Mahnmale, die an die Deportation der jüdischen Bevölkerung Berlins erinnern, der Holocaust wurde in einem der Schriftzeuge geleugnet. Im Laufe des Tages beschmierten Unbekannte in Marzahn-Hellersdorf drei in der Flüchtlingshilfe aktive Einrichtungen erneut mit judenfeindlichen Schriftzügen. Am Abend lief dann die rechte Bärgida-Demonstration an der im Nationalsozialismus geplünderten Synagoge Rykestraße in Prenzlauer Berg vorbei. Ein Redner nannte die Bundesregierung »Brunnenvergifter« – eine alte antisemitische Bezeichnung.

Auch im Sport kam es zu mehreren judenfeindlichen Vorfällen. Im Sommer fanden die Makkabi-Spiele in Berlin statt, die größte jüdische Sportveranstaltung Europas. RIAS berichtet von neun antisemitischen Taten in Zusammenhang mit den Spielen, sechs Personen wurden mit Steinen attackiert. Die Jüdische Gemeinde riet den Sportlern davon ab, in bestimmten Bezirken ihre Kippa zu tragen. Die Fußballmannschaft des jüdischen Vereins TuS Makkabi Berlin wurde im letzten Jahr gleich mehrmals das Opfer von Angriffen und antisemitischen Anfeindungen. Bei einem Spiel im Oktober wurde einem der Makkabi-Spieler unvermittelt ins Gesicht geschlagen, den anderen Spielern wurde gedroht, sie mit Messern abzustechen.

Die Gefahr für Berliner Juden scheint in den Bezirken unterschiedlich ausgeprägt zu sein: »Besonders erschreckend sind die Angriffe und Beschimpfungen, die sich in Kreuzberg, Mitte, Neukölln und Charlottenburg ereigneten«, sagt Steinitz. »Hier traf es jene relativ kleine Gruppe, die aus Gründen der Selbstbehauptung nicht darauf verzichten wollte, ihre religiöse Zugehörigkeit offen zu zeigen.«