Werbung

Die Frau, die meine Tochter war

Eine Erzählung. Von Theodor Weißenborn

  • Theodor Weißenborn
  • Lesedauer: 9 Min.

Heute Nachmittag schellte das Telefon, und die Frau am Empfang sagte, Frau Pertillon sei auf dem Weg zu mir. Dann klopfte es an der Tür, und als ich öffnete, stand in üppiger Fülle eine weibliche Person vor mir, die mich theatralisch umarmte und mit »Väterchen!« begrüßte.

Ich erinnerte mich nicht, mir die Dame aufs Zimmer bestellt zu haben, ihre Takelage erschien mir mondän, und für Sekunden hatte ich dasselbe Gefühl der Peinlichkeit, das ich einmal in meiner Schulzeit, als Achtzehnjähriger, kurz vor dem Abitur empfunden hatte, als mich in Düsseldorf am Ballwerferplatz, also unweit der berüchtigten ruhigen Seite der Königsallee, meine mit mir gleichaltrige Cousine Mechthild ansprach, die an jenem Tag eine herzförmige Lippenbemalung aufwies und ein Täschchen über der Schulter trug, das sie, während sie mit mir sprach, albern und verlegen hin und her schlenkerte. Der Gedanke, dass mich in dieser Situation einer meiner Lehrer, womöglich gar der Religionslehrer hätte sehen können, war mir entsetzlich gewesen, und ich hatte die (im übrigen höchst attraktive) Cousine eilends verabschiedet mit dem Hinweis, ich müsse die nächste Bahn noch bekommen.

Die blonde Frau, die Väterchen zu mir sagte, streckte mir Blumen entgegen sowie ein mit goldener Kordel umschnürtes Paket, ferner eine in Geschenkpapier eingeschlagene Schallplatte (dem Format nach konnte es nur eine Schallplatte sein), nahm mir die Blumen sofort wieder aus der Hand, und während ich die übrigen Gaben zunächst einmal auf den Tisch legte, sagte sie: »Das schickt dir Yves! Die Platte ist ein Ulk, und der Wein ist die Wiedergutmachung für den Fall, dass du keinen Spaß verstehst. Er sagt, wenn man dir ein Buch schenkt, haut man bei deinem Geschmack immer daneben.«

»Stimmt!«, sagte ich.

Während die Frau die Blumen in eine Vase stellte, die sie aus dem Sideboard meiner Mutter genommen hatte, sah ich ihr Gesicht von der Seite und suchte nach mir bekannten Zügen, nach einer Ähnlichkeit mit Steffi oder mir, denn wenn die Frau Väterchen zu mir sagte, musste sie meine Tochter Trixi sein.

Madame war inzwischen in die Teeküche gegangen, um uns, wie sie sagte, einen Café noir zu machen, denn den Wein, habe Yves gesagt, müsse ich allein trinken, der sei nur für mich.

Ich wunderte mich, mit welcher Sicherheit Trixi sich hier bewegte, denn ich hatte sie früher nie hier gesehn. Aber sie wusste genau, wo die Vasen standen und das Geschirr und der Kaffee zu finden waren, als hätte sie dies alles, was sie jetzt tat, schon einmal gemacht.

Vielleicht hat sie sich um meine Mutter gekümmert, dachte ich.

Sie kam zurück mit dem kleinen Tablett, sah, dass ich noch immer herumstand - »aber setz dich doch!«, sagte sie.

Ich setzte mich, und sie goss den Kaffee ein. »Ja, da staunst du, was?«, sagte sie. »Hat sich so ergeben, dass ich mit zur IGEDO gefahren bin. Yves sagt, ich kann gut mit Menschen umgehn, und das ist gut fürs Geschäft.«

»IGEDO?«, fragte ich.

»Ja. Jetzt ist doch im Rheinpark die IGEDO! Wir haben natürlich einen Stand! Einen ganz großen sogar! Zwölf Meter lang!«

»Hm«, sagte ich.

»Bis vier hab ich Zeit«, sagte sie, und ich sah auf die Uhr: es war Viertel vor vier.

»Vor Messeschluss treffen wir uns wieder am Stand. Das schaffe ich schon. Ich hab den Peugeot unten stehn. Dann geht’s ins Hilton zum Umziehen, abends sind immer Empfänge, weißt du. Yves gibt auch einen. Für Geschäftsfreunde. Morgen Abend. In den Rheinterrassen. Gestern waren wir im Rheinischen Hof - na, da war vielleicht was los! Bis heute morgen. Um halb zwei heute morgen haben wir noch Austern bestellt. Ist ja eigentlich eine Frechheit: morgens um halb zwei Austern bestellen. Aber wir haben sie bekommen.«

»Das ist ja ekelhaft!«, sagte ich.

»Was ist ekelhaft?«

»Austern.«

»Austern sind ekelhaft?«

»Ja, ekelhaft!«

»Na, hör mal! Austern sind doch nicht ekelhaft! Hast du überhaupt schon mal welche gegessen?«

»Nein. Ekelhaft!«, sagte ich.

»Na gut, es zwingt dich ja niemand, welche zu essen.«

»Das wäre ja auch noch schöner!«, sagte ich. Das Gespräch schien beendet.

Ich hatte erwartet, dass Trixi, wenn sie mich schon besuchte, nach Steffi fragen würde, und ich überlegte, ob ich nicht fragen solle, warum sie nicht bei der Beerdigung gewesen sei. Denn ich erinnerte mich nicht, Trixi auf Steffis Beerdigung gesehen zu haben. Hatte es da eine Verstimmung, vielleicht gar ein Zerwürfnis gegeben? Auch Yves war nicht da gewesen. Wahrscheinlich geschäftlich verhindert. Ich wusste auch nicht, wo ich selbst zu der Zeit gewesen war, ob Steffi im Krankenhaus gestorben war oder zu Hause, ob ich bei ihr gewesen war oder ob ich sie im Krankenhaus besucht hatte wie meine Mutter, für die ich in der Teeküche Kaffee gekocht hatte, wenn ich sie besuchte. - Die Frau, die meine Tochter war, hätte jetzt Gelegenheit gehabt, sich nach Steffi zu erkundigen, oder ich hätte sie fragen können, ob sie sich an Steffi erinnere, ob sie meine Frau noch gekannt habe. Aber ihr fiel wohl nichts ein.

»Ja, dann will ich mal wieder!«, sagte sie. »Nun wird’s wohl wieder Weihnachten, bis wir uns sehn.« »Hm«, sagte ich.

Mir fiel nichts mehr ein.

Ich hätte nach Steffi fragen können, dachte aber: vielleicht ist es ihr peinlich, über Steffi zu sprechen. Wer spricht schon gern über Krankheit und Tod! Ich spreche ja auch nicht über meine Krankheit! Wie mein Vater. Schon die Frage, wie lange es noch dauern werde, ist den Ärzten zu viel. Ein guter Patient fragt nicht. Ein guter Patient schweigt, gehorcht und kämpft, um den Ärzten und den Schwestern, die sich so aufopferungsvoll um ihn sorgen und mühen, eine Freude zu machen.

Ich setzte mich an den Sekretär und nahm die Schachtel heraus, in der sich einige wenige noch verbliebene handschriftliche Aufzeichnungen Steffis befanden. Was immer mir bemerkenswert, aufhebens- und bewahrenswert schien, hatte ich im Lauf von Jahren und Jahrzehnten in dieser Schachtel gesammelt.

Ich fand Steffis Gedicht, das sie in einer Therapiegruppe geschrieben hatte. Sie hatte traurige Phasen und hatte an der Volkshochschule einen Kurs belegt, der Bibliotherapie oder Poesietherapie hieß.

»Gehen wir auf schmalem Pfad,

wo der Fluß zur Linken rauscht,

steigen aus dem tiefen Tal

von dem Wasser Nebel auf.

Dunkelheit will uns umfangen,

schwerer, müde wird der Gang,

alles, was wir sind und waren -

plötzlich schiebt sich Hand in Hand.«

Zuunterst fand ich einen Zettel, auf dem stand, mit Bleistift kraftlos, fast drucklos geschrieben: »Lieber Albert, mach Dir keine Sorgen! Auch diese Tage gehen vorüber.«

Diesen Zettel konnte sie mir im Krankenhaus gegeben haben, im Flur oder vielleicht in der Cafeteria oder an ihrem Bett, oder sie hatte ihn einem Brief beigelegt oder ihn Trixi mitgegeben. Wie auch immer - die Kranke hatte den Gesunden getröstet. Ich hielt Steffis Botschaft in der Hand und las in ihren Schriftzügen wie in ihrem Gesicht, das mir plötzlich vor Augen stand - nicht so, wie auf den Fotos aus ihren letzten Jahren, an die ich mich nach meinem Herzstillstand nicht mehr hatte erinnern können, sondern wie an dem Tag, als sie den Kater Philipp und seine Geschwister aus der Mülltonne rettete.

Ich hielt ihre Hand.

In diesem Augenblick schellte das Telefon, ich hob ab, jemand hatte sich verwählt, ich legte auf, und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich allein im Zimmer war. Trixi musste sich verabschiedet haben und gegangen sein. Oder war sie grußlos gegangen, ohne dass ich es gemerkt hatte?

Es war, als hätte ich wieder einen Blackout oder doch eine Absence gehabt. Ich konnte mich nicht erinnern, mich von Trixi verabschiedet zu haben, und hoffte nur, sie nicht oder doch nicht gravierend verstimmt zu haben. Nein, sie war nicht im Zorn gegangen. Weshalb hätte sie zürnen sollen! Etwa, weil ich keine Austern mochte? Das wäre zu albern gewesen. Ich hatte ihr einfach die Hand gegeben, in einem Moment der Zerstreutheit, der Geistesabwesenheit, oder sie hatte sich just in einem solchen Augenblick von mir verabschiedet, da ich in Gedanken auf Reisen war, hatte mich umarmt und »Väterchen« gesagt und »bis Weihnachten dann! Und weiterhin gute Besserung!«

Aber ich hatte sie aus meinem Zimmer entlassen wie aus meinem Leben, so teilnahmslos, so ohne jegliches Interesse an ihrer Person und an ihrem Wohlergehen, dass mir, nach landläufiger Meinung, hätte schaudern müssen, eben weil dies so war, wie es war, und ohne dass ich’s mit einem moralischen Kraftakt hätte ändern können.

Um ehrlich zu sein (was freilich verpönt ist): ich hatte keine Lust, über meine moralischen Verhältnisse zu leben - ich wollte nicht heucheln. Ich wollte so sein, wie ich war, und nicht anders, wollte fühlen, wie ich fühlte, und nicht, wie andere es von mir erwarteten oder hätten erwarten können oder geglaubt hätten, es von mir erwarten zu dürfen.

Wie alt, fragte ich mich, muss der Mensch eigentlich werden, um endlich ganz und gar bei sich selbst zu sein!

Zudem: Trixi bedurfte meiner nicht, und ich bedurfte nicht ihrer. Sie war erwachsen und lebte ihr Leben, als Frau Pertillon.

Ich hatte Steffi geliebt. Steffi hatte sich ein Kind gewünscht, ich nicht. Was ich für Trixi getan hatte - wenn oder falls ich etwas für sie getan hatte -, hatte ich für Steffi getan. Dass ich Trixi geliebt hätte, konnte ich nicht sagen.

Ich war ein schlechter Vater gewesen.

Aber ich hatte Steffi geliebt, und Steffi hatte mich geliebt. Ich war ein Monster an Egozentrik - so hatte Steffi mich genannt, wenn sie trauerte -, aber irgendetwas an mir musste liebenswert sein.

Steffi hatte nichts von mir gefordert, was ich nicht besaß.

Ich hatte gegeben, was ich besaß, und war der, der ich war.

Ich trauerte über meine begrenzte Potenz, und ein Wort von George Devereux fiel mir ein, das Steffi einmal in einem Buch für mich angekreuzt hatte. Es lautete: »Ich habe das Recht, der zu sein, der ich bin, und kein anderer.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal