nd-aktuell.de / 21.01.2016 / Kommentare / Seite 4

Wider die Polarisierung

Franziska Brantner fordert ein unabhängiges und demokratisch legitimiertes Gremium zur Kontrolle der EU-Grundwerte

Franziska Brantner
Immerhin hat sich der Ton wieder beruhigt zwischen Warschau und manchen EU-Partnern. Polterer halten sich nun zurück. Das Problem besteht indes fort. Die PiS-Regierung treibt ihre »Reformen« voran.

Immerhin hat sich der Ton wieder beruhigt zwischen Warschau und manchen EU-Partnern. Parlamentspräsident Martin Schulz, der in unverantwortlicher Form noch kürzlich vor einer »Putinisierung« Polens warnte, machte am Dienstag einen Diener vor Ministerpräsidentin Beata Szydlo bei deren Besuch in Straßburg. Auch andere Polterer halten sich nun zurück.

Das Problem besteht indes fort. Die PiS-Regierung hat im Eiltempo Polens Oberstes Gericht und den Öffentlichen Rundfunk »Reformen« unterzogen, die die Europäische Union nicht ignorieren darf; zumindest dann nicht, wenn sie es im eigenen Club ernst meint mit jenen hehren Standards zu Rechtsstaatlichkeit und Grundwerten, deren Erfüllung sie Beitrittskandidaten mit größter Selbstverständlichkeit abverlangt.

In Ungarn bis heute unter Viktor Orban, zuvor in Rumänien unter Victor Ponta oder in Italien unter Silvio Berlusconi: Gesetze wurden gedehnt bis zum Bruch, die Gewaltenteilung ausgehöhlt. Der Umgang vieler EU-Staaten mit Flüchtlingen widerspricht oft grundlegenden Menschenrechtsnormen, vielerorts werden Asylsuchende Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt, Schwule und Lesben ausgegrenzt und diskriminiert.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Anstrengungen der Staaten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nach dem Beitritt zur EU enden. Um außenpolitisch glaubwürdig zu sein, müssen die EU und ihre Mitglieder auch im Innern Werte respektieren. Wir wollen liberale Demokratien überall in Europa.

Um aber Entwicklungen, wie wir sie heute und damals beklagen, klug etwas entgegenzusetzen, gilt es zu beachten, dass die AnführerInnen nationalstaatlicher - oft anti-europäischer - Bewegungen ja gerade auf eine Polarisierung gegen »Brüssel« oder »Berlin« setzen, um Mehrheiten zu gewinnen. Gegen autoritäre Tendenzen helfen aber nicht die autoritären Gesten der Herren Oettinger, Schulz oder Kauder. Eine »Bilateralisierung« der Auseinandersetzung, jedes Bashing aus Berlin gegen Warschau spielt vor allem jenen in die Karten, die polarisieren wollen. Außerdem wird Kritik dann unglaubwürdig, wenn sie sich nur auf einzelne Regierungen konzentriert, während andere - meist aus parteipolitischen Gründen - verschont werden.

Es braucht daher einen gemeinsamen europäischen Mechanismus. Kritik und Einflussnahme ja - aber es kommt auf den Ton und das Verfahren an. Wenn Grundwerte wirksamer angemahnt werden sollen, muss dies stärker legitimiert geschehen als bisher. Wir schlagen deshalb eine Alternative zu den zeitraubenden, intransparenten, national beeinflussten und am Ende wenig erfolgreichen Instrumenten vor, über die EU-Kommission und -Ministerrat verfügen: ein ständiges, unabhängiges und demokratisch legitimiertes Gremium auf EU-Ebene. Als Vorbild könnte die Venedig-Kommission des Europarats dienen, die seit 1990 Staaten in Grundrechtsfragen berät. Das Team soll aus nationalen Verfassungsexperten bestehen; jedes der heute 28 nationalen Parlamente entsendet eine anerkannte Person. Das EU-Parlament ernennt zusätzlich hochrangige Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft. Das Gremium sollte unabhängig von Regierungsvertretern ein unparteiisches, faktengestütztes und fortlaufendes Analyseverfahren aller Mitgliedsstaaten sicherstellen. Empfehlungen und Stellungnahmen von Regierungen sollten ebenso berücksichtigt werden wie Berichte aus der Zivilgesellschaft; auch sollte es eine Zusammenarbeit mit der Europäischen Grundrechteagentur geben. Die Analyse sollte transparent und offen verlaufen, ihre Ergebnisse regelmäßig in Rat, Kommission und Europäischem Parlament diskutiert werden. Das Expertenteam sollte sowohl Vertragsverletzungsverfahren als auch Sanktionen empfehlen können. Letztere lägen unterhalb der Schwelle des Artikel-7-Prozesses, den der EU-Vertrag zwar vorsieht, der aber wegen sehr hoher Schwellen und Vetorisiken praktisch nie zum Einsatz kommen dürfte. In Frage käme etwa das Einfrieren von EU-Mitteln, jedoch unter der Maßgabe, dass finanzielle Auswirkungen die jeweilige Regierung treffen sollten und nicht die Bevölkerung.

Szydlo sagte in Straßburg, die EU habe größere Probleme, als sich um Polen zu kümmern. Aber ihre Regierung hat von sich aus bei der Venedig-Kommission eine Prüfung ihrer »Reformen« beantragt. Damit lieferte sie selbst den Beleg dafür, dass ein Kurs, der eben nicht auf Konfrontation setzt, der richtige ist.