nd-aktuell.de / 23.01.2016 / Kommentare / Seite 2

Abschied eines Eurokraten

Martin Leidenfrost über einen Brüsseler Freund, dem in zehn Jahren Arbeit für die EU seine polnische Heimat fremd wurde

Martin Leidenfrost
Staszek hat einen Plan: Als EU-Beamter will er sich seine Rente in Brüssel verdienen. Gar nicht so einfach, wenn man dafür zehn Jahre in Brüssel arbeiten muss, ja sogar leben. Da müssen schon mal italienische Arien in der Disko helfen.

Meinen Freund Staszek lernte ich 2008 in Brüssel kennen. Der EU-Beamte, Sohn eines Arztes und einer Apothekerin aus dem gottesfürchtigen polnischen Karpatenvorland, befand sich gerade in seinem Christusjahr. Er litt wie ein Hund, denn er fand keine Frau. Er war klug und witzig, sprach sieben Fremdsprachen, und bevor er seinen umsatzsteuerfreien Kleinwagen zu Schrott fuhr, trieb er seinen Integrationswillen so weit, dass er bei Nachtfahrten flämische Dialekte im flämischen Radio zu unterscheiden begann. Er war ein tüchtiger und hochqualifizierter Beamter, passte aber nicht zum Menschenschlag des Brüsseler Europaviertels. Staszek sah sehr normal aus, wie ein rundgesichtiger Pole mit Bäuchlein eben. Ich schrieb damals eine Kolumne aus Brüssel. Wenn ich ihm von meinen neuesten Erkenntnissen aus der Europablase erzählte, reagierte er meist mit einem leichten, traurigen, in sich gewandten Kopfschütteln.

Seit meinem Abschied traf ich ihn jedes Jahr einige Male. Er stellte alles Mögliche an, um das Leben in jener hochbezahlten »Comfort Zone« auszuhalten. So pendelte er eine Zeitlang aus Antwerpen und aus Gent ein. Wie viele andere EU-Beamte begann er neurotisch zu sparen, nach ein paar Bier verwandelte er sich aber zuverlässig von Dr. Jekyll in Mr. Hyde und ließ die Puppen tanzen. Am nächsten Morgen beklagte er bitterlich die hinausgeschmissenen Euros. Fortan hatte er als einziges Ziel, zehn Jahre im europäischen Dienst durchzuhalten, um im Alter Anspruch auf die EU-Beamtenrente zu haben.

2011 floh er dennoch. Er nahm einen »Congé de convenance personelle«, einen unbezahlten Jahresurlaub. Ich holte den Rückkehrer damals vom Flughafen Krakau ab. An jenem Abend lernte ich ihn als einen entfremdeten Polen kennen: Er fand nur mit Mühe seine kleine Eigentumswohnung in der umzäunten »Siedlung der Aufklärung«, das angrenzende Arbeiterviertel Nowa Huta jagte ihm bei Nacht Angst ein, und er hielt mir einen sehr eurokratisch klingenden Vortrag über die Schädlichkeit der Kombination von Kaffee und Milch. Dass er überall Polnisch hörte, langweilte ihn nach wenigen Wochen. Er ging immer öfter in ein Irish Pub, um nach Herzenslust in Fremdsprachen zu parlieren. Die erträumte Polin fand er nicht. Nach einem Jahr war er wieder Beamter in Brüssel.

Zurückgekehrt, verlagerte sich seine Phobie von den europäischen Institutionen auf das »Nichtland« Belgien. Dass Brüssel auf Sümpfen errichtet ist, behauptete er körperlich zu spüren: »Ganz Belgien gehört evakuiert und eingezäunt, wie die Todeszone von Tschernobyl.« Er nahm jedes Wochenende Billigflüge nach Krakau, in Brüssel frühstückte und nachtmahlte er die mitgebrachte polnische Leberstreichwurst. Er evakuierte sogar seinen Halbautomatik-Gebrauchtwagen und den Großteil seiner Handtücher nach Polen.

2015 wurde er 40. Im Dezember waren die zehn Jahre um, der Rentenanspruch ist erreicht. Zuletzt unterdrückte er das Biest in sich, indem sein Gehalt zur Mama nach Krosno ging. Von dort überwies er sich täglich zehn Euro nach Brüssel, und wenn ihm davon etwas übrig blieb, überwies er auch schon mal 58 Cent nach Polen zurück. Wenn er in Polen sparsam lebt, muss er nie mehr arbeiten.

Als ich ihn neulich in Brüssel traf, wirkte er fast versöhnt. Er boykottierte nicht einmal mehr das belgische Nichtbier. Wir hatten miteinander Deutsch und ab einem gewissen Promillesatz Russisch gesprochen, in den letzten Jahren sprachen wir nur noch Niederländisch. Das ist offiziell Brüssels zweite Amtssprache, mehr Ignoranz und Verachtung hätten wir aber in der Öffentlichkeit der europäischen Hauptstadt nicht ernten können. Zwei Onkels, die zwischen Lachanfällen darüber witzeln, wie billig man sich leckere Speisen mit polnischen »Aardappels« zubereiten kann - so fand Staszek erst recht keine Frau.

Seit Weihnachten ist Staszek wieder ein Pole unter Polen. Er ist im Grunde unpolitisch, westeuropäische Politik verfolgt er kaum, in Polens geistigen Bürgerkrieg hat aber auch er sich eingereiht. Das Wort vom »Verräter« fällt dort schnell. Staszeks Leiden in der Komfortzone hatte etwas Irrationales, um nicht zu sagen Polnisches. Er fehlt mir schon jetzt. Wer wird künftig mit italienischen Arien gegen die Disco-Beschallung afrikanischer Tanzbars ansingen? Ohne Staszeks unheilbares Unglück wird mir Brüssel zur leeren Stadt.