Armut kommt elfmal vor, Reichtum gar nicht

Die Koalitionsvereinbarung hält die soziale Spaltung der Gesellschaft nicht auf, meint Christoph Butterwegge

Herr Butterwegge, Sie beklagen seit Jahren eine zunehmende soziale Spaltung in Deutschland. Müssen Sie angesichts des Koalitionsvertrages zwischen Union und SPD bei Ihrer Kritik bleiben oder ändert sich etwas zum Besseren?

Durchzogen und beherrscht wird das Dokument von der Standortlogik, die alle Politikfelder der Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland unterordnet. Der neoliberale Wettbewerbswahn schlägt sich in einem technokratischen Vertragsentwurf nieder, in dem die Schlüsselbegriffe digital und Digitalisierung nicht weniger als 298-mal stehen. Ausgeblendet wird hingegen die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich, das Kardinalproblem der Bundesrepublik. Der Begriff »Armut« kommt nur elfmal vor, Reichtum überhaupt nicht. Umverteilung von Oben nach Unten, die nötig wäre, um die soziale Spaltung zu stoppen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, kann in dieser Regierungskonstellation nicht stattfinden, weil die Union mit dem Merkel-Dogma »Keine Steuererhöhung, für niemanden!« jegliche Mehrbelastung für Spitzenverdiener, Firmenerben und Großunternehmen ablehnt.

Immerhin soll der Solidaritätszuschlag reduziert werden.

Anstatt die Finanzstärksten in der Gesellschaft in die Pflicht zu nehmen und sie die Kosten für seit Jahrzehnten wachsende soziale Probleme tragen zu lassen, machen CDU, CSU und SPD genau das Gegenteil: Mit der laut Koalitionsvertrag im Jahr 2021 beginnenden Abschmelzung des Solidaritätszuschlages entlasten sie zunächst die obere Mittelschicht und später noch Reichere, weil er auch auf die Kapitalertragsteuer und die Körperschaftsteuer aufgeschlagen wird. Bezieher niedriger Einkommen, die durch den Soli-Wegfall angeblich entlastet werden sollen, wie CDU, CSU und SPD unisono beteuern, müssen ihn ja überhaupt nicht zahlen. Er wird nämlich bei Singles erst ab einem Monatseinkommen von mehr als 1500 Euro und bei einer vierköpfigen Familie sogar erst bei deutlich über 4000 Euro fällig.

Und wie steht es um die Bekämpfung der Armut?

Im letzten Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD kam das Wort »Kinderarmut« gar nicht vor, und Altersarmut sollte »verhindert«, also nicht etwa bekämpft, verringert oder beseitigt werden. Laut dem nun vorgelegten Entwurf soll es wenigstens einzelne Verbesserungen geben. Etwa beim Kinderzuschlag, der verhindern soll, dass Eltern nur wegen ihres Nachwuchses in Hartz IV fallen. Die in zwei Schritten geplante Erhöhung des Kindergeldes um 25 Euro pro Monat wird hingegen nicht die erwünschte Wirkung haben. Denn sie kommt bei den Familien, die von Transferleistungen leben, gar nicht an, da sie auf Hartz IV und die Sozialhilfe angerechnet wird.

Eltern, die wegen ihres geringen Einkommens das Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes in Anspruch nehmen können, wird die Zuzahlung für das Mittagessen ihrer Kinder in einer Ganztagseinrichtung und für die Schülerbeförderung erlassen. Kinder im Grundschulalter sollen einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung erhalten. Trotzdem gleicht das großkoalitionäre »Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Kinderarmut« einem Päckchen, das nur kleinere Einzelmaßnahmen enthält. Diese bringen zwar Erleichterungen für die betroffenen Familien, ändern aber wenig an deren prekärer Lebenslage und ersetzen kein schlüssiges Konzept zur Armutsbekämpfung.

Ein zentraler Punkt der Koalitionsverhandlungen war die Befristung von Arbeitsverhältnissen ohne Begründung. Die SPD wollte diese abschaffen, nun werden die Möglichkeiten nur eingeschränkt. Oder immerhin eingeschränkt - je nach Standpunkt. Was überwiegt für Sie?

Das lässt sich deshalb schwer einschätzen, weil CDU, CSU und SPD eine komplizierte Quotenregelung als Kompromiss getroffen haben. Die sachgrundlose Befristung war 1985 von CDU/CSU und FDP eingeführt worden; nach dem Regierungswechsel 1998 hätte Rot-Grün sie leichter als jetzt wieder abschaffen können, wenn die SPD und ihr Bundeskanzler Gerhard Schröder dies gewollt hätten.

Fragt man, warum SPD und Bündnis 90/Die Grünen dies seinerzeit nicht taten, dann stößt man auf die Standortlogik der Agenda 2010 und auf Bemühungen der rot-grünen Koalition um eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Und übrigens auch auf die Tatsache, dass sozialdemokratisch geführte Ministerien und Verwaltungen, ja selbst die Parteizeitung »Vorwärts« als Arbeitgeber bis in die jüngste Vergangenheit hinein das Instrument der sachgrundlosen Befristung genutzt haben, um Beschäftigte unter Druck setzen oder sich ohne Kündigungsschutz von ihnen trennen zu können.

Dass das Rentenniveau bis 2025 festgeschrieben wird und der Beitrag 20 Prozent nicht überschreiten soll - schützt das wirksam gegen Altersarmut?

Nein, das Erstere hält die Talfahrt des Rentenniveaus ja nur auf, die unter Kanzler Schröder und seinem Arbeitsminister Walter Riester eingeleitet wurde. Die vorgesehene Deckelung der Rentenversicherungsbeiträge ist widersinnig, weil sie in einer alternden Gesellschaft zwangsläufig zu weiteren Leistungskürzungen und damit zu noch mehr Armut von Seniorinnen und Senioren führt. Durch die geplante Grundrente sollen Geringverdiener nach jahrzehntelanger Beitragszahlung im Alter zehn Prozent mehr erhalten, als die staatliche Grundsicherung beträgt. Derzeit bekämen die Grundrentner bundesdurchschnittlich 880 Euro im Monat, womit sie immer noch deutlich unter der EU-offiziellen Armutsgrenze von 969 Euro lägen. Die als Mütterrente II bezeichnete Anrechnung eines dritten Entgeltpunktes für Frauen, die vor 1992 mindestens drei Kinder geboren haben, wird von CDU, CSU und SPD als wichtiger Baustein zur Bekämpfung von Altersarmut betrachtet. Aber sie hilft den betroffenen Grundsicherungsbezieherinnen nicht im Mindesten. Da ihnen der Rentenzuschlag auf die Grundsicherung im Alter angerechnet, das heißt sofort wieder abgezogen und gar nicht ausgezahlt wird, bekämpft man so höchstens verdeckte Altersarmut.

Dennoch: Stehen mit dieser Koalitionsvereinbarung Familien, Geringverdiener, Arbeitslose und Rentner nicht immer noch besser da, als es bei einer Jamaika-Regierung aus Union, FDP und Grünen der Fall gewesen wäre?

Das kann sein. Aber besser heißt in diesem Fall nicht schon gut. Exemplarisch genannt sei nur der Plan von CDU, CSU und SPD, das bisherige Bundesprogramm »Soziale Teilhabe« ins Sozialgesetzbuch als neues Regelinstrument »Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle« aufzunehmen. Das können bis zu 150 000 Menschen in Anspruch nehmen; es soll über den Passiv-Aktiv-Transfer sowie den um eine Milliarde Euro pro Jahr aufgestockten Eingliederungstitel der Bundesagentur für Arbeit finanziert werden. Obwohl die Anzahl der Langzeitarbeitslosen zwischen 2010 und 2016 fast konstant geblieben ist, sind die für Eingliederungsmaßnahmen ausgegebenen Mittel in diesem Zeitraum von über sechs Milliarden auf 3,4 Milliarden Euro jährlich gesunken, also um fast die Hälfte.

2017 waren insgesamt 5,1 Milliarden Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik vorgesehen, über eine Milliarde Euro davon wurden aber gar nicht ausgegeben. Hieran sieht man, dass es sich bei dem Projekt der alten und neuen Koalitionsparteien zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen nicht eben um einen großen Wurf handelt.

Sollte die SPD-Basis der Koalitionsvereinbarung zustimmen?

Richtig ist, dass sie überhaupt die Möglichkeit erhält, über den Vertragsentwurf abzustimmen. Dies ist ein gutes Beispiel für innerparteiliche Demokratie, obwohl es vielen Kommentatoren demokratischer erscheint, wenn nur der Vorstand einer Partei die Verhandlungsergebnisse abnickt. Ich stehe dieser Großen Koalition jedoch sehr kritisch gegenüber, weil sie die Gefahr vergrößert, dass sich der Rechtspopulismus ausbreitet und die AfD unter Alexander Gauland als Oppositionsführer im Bundestag gestärkt wird.

Aber auch andere Gründe sprechen dagegen: So bedeutet eine Große Koalition weniger Raum für innerparteiliche Demokratie - zu meiner Zeit als Jungsozialist in der SPD hieß es oft: »Ihr könnt doch nicht unsere Minister düpieren, denn das schadet der Partei.« In der Opposition könnte sich die SPD hingegen selbstkritisch mit ihrer jüngsten Vergangenheit auseinandersetzen, ihr Profil schärfen und spätestens zum nächsten Bundestagswahlkampf an ihre ursprünglichen Ziele anknüpfen.

Was bedeutet für die SPD eine erneute Große Koalition unter den jetzt verabredeten inhaltlichen und personellen Vorzeichen?

Statt eine progressive, innovative Kraft im deutschen Parteiensystem zu sein, fungiert die Sozialdemokratie primär als ein politischer Reparaturbetrieb, der die Folgeschäden eigener Fehlentscheidungen zu beheben sucht. Das zeigt sich ausgerechnet dort, wo der Koalitionsvertrag eine sozialdemokratische Handschrift trägt - beispielsweise bei der geplanten Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dafür hat die SPD eine Kernforderung, den Einstieg in die Bürgerversicherung, fallen gelassen. Es war seinerzeit die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder beziehungsweise deren Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die das Prinzip der paritätischen Beitragszahlung ausgehebelt hatte - durch Einführung des Zusatzbeitrags der Versicherten.

Oder nehmen wir die geplante Abschaffung der Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge in Höhe von 25 Prozent, welche die Bezieher von Dividenden, Zinsen und Veräußerungsgewinnen entlastete. Der damalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück hatte diese Form der Kapitalertragsteuer in der ersten Großen Koalition unter Angela Merkel eingeführt. Auch die zeitweilige Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge, die nur subsidiären Schutz genießen, hatte die SPD in der vergangenen Legislaturperiode mit beschlossen. Dass künftig laut Koalitionsvertrag monatlich 1000 Familienangehörigen subsidiär Geschützter ermöglicht werden soll, nach Deutschland zu kommen, ohne dass eine großzügigere Härtefallregelung für den Familiennachzug greift - das ist ebenfalls kein Ruhmesblatt sozialdemokratischer Verhandlungstaktik.

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