Strategisch gegen den Zwang zur Selbstoptimierung

Der Soziologe Simon Schaupp über offenen und verdeckten Widerstand gegen neue Formen der Kontrolle am Arbeitsplatz

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 7 Min.

In Ihrem Buch »Technopolitik von unten« beschäftigen Sie sich mit Arbeitskämpfen im Rahmen der Digitalisierung und der Plattform-Ökonomie. War es für Sie überraschend, dass 2021 etwas passierte, was in Deutschland nicht häufig vorkommt: ein wilder Streik - und zwar ausgerechnet bei dem Lebensmittellieferdienst Gorillas?

Auch wenn es etwas besserwisserisch klingt: Ehrlich gesagt war ich nicht überrascht von dem Streik. Man konnte schon seit längerer Zeit eine Zuspitzung der Kämpfe in diesem Bereich beobachten. Zwar war der Streik bei Gorillas in seinem Ausmaß und seiner Intensität etwas Besonderes. Doch gab es Auseinandersetzungen bereits bei anderen Lieferdiensten wie Deliveroo oder Foodora. Und auch beim Onlineversandhandel spitzen sich die Konflikte zu.

Interview
Simon Schaupp arbeitet am Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse der Universität Basel. Für seine Dissertation »Technopolitik von unten« erhielt er den diesjährigen Jörg-Huffschmid-Preis der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Eine überarbeitete Version der Arbeit erschien jüngst im Verlag Matthes & Seitz Berlin. Simon Poelchau sprach mit dem Soziologen über Plattform-Arbeiter*innen, die Digitalisierung der Arbeit und die daraus entstehenden neuen Klassenkämpfe.

Gibt es etwas, was diese Kämpfe von anderen unterscheidet?

Im Vergleich zu Arbeitskämpfen in anderen Branchen sind sie in der Plattform-Ökonomie häufig zunächst selbstorganisiert. Sie werden nicht von den großen DGB-Gewerkschaften geführt. Gleichzeitig sind die Kämpfe meist informeller, auf den ersten Blick so nicht als Streik erkennbar, um Repressionen zu vermeiden.

Warum spielen die etablierten Gewerkschaften in diesen Kämpfen nur eine untergeordnete Rolle?

Auch wenn DGB-Gewerkschaften wie Verdi, IG Metall oder NGG sich mittlerweile auch engagieren, herrschte bei ihnen zunächst der Glaube vor, dass sich die prekären Plattform-Arbeiter*innen nur sehr schwer organisieren lassen. Erst als Basisinitiativen wie die FAU Erfolge hatten, änderte sich das. Doch die Gewerkschaften haben auch in klassischen Industriebetrieben Probleme mit der Digitalisierung.

Inwiefern?

Dort verstehen sie sich vor allem als Sozialpartnerinnen. Im Rahmen von Initiativen wie Industrie 4.0 sitzen die Gewerkschaften an einem Tisch mit den Interessenvertreter*innen der Industrie. Das heißt, sie tragen die Digitalisierung prinzipiell mit, um so im begrenzten Maße ein Mitspracherecht zu bekommen. Doch die Folge ist häufig, dass Sachen eingeführt werden, unter denen die einfachen Beschäftigten in der Fertigung leiden. Diese gehen dann auf Distanz zu den Gewerkschaften und entwickeln autonome Formen von informellem Widerstand.

Für Ihr Buch haben Sie selbst bei einem Kurierdienst angeheuert. Haben Sie da Formen solcher Kämpfe mitbekommen?

Die großen Auseinandersetzungen habe ich nicht mitbekommen. Da, wo ich gearbeitet habe, gab es aber durchaus Widerstandsformen in kleinerem Umfang. Man hat sich zum Beispiel abgesprochen, nicht allzu schnell zu arbeiten. Es ging häufig auch darum, gemeinsam den Algorithmus auszutricksen, der einen die ganze Zeit kontrolliert.

Wie kann man sich das vorstellen?

Zunächst ist der Arbeitsprozess darauf angelegt, dass man seine Kolleg*innen nicht trifft. Bei den Essensausliefer*innen gibt es keinen klassischen Betrieb, wo alle sind. Man hat nur sein Handy, das einen durch die Stadt schickt. Doch gibt es in den jeweiligen Städten meist Zonen, wo man häufiger auf Kolleg*innen trifft, weil es dort besonders viele Restaurants gibt. So kann man dann Orte ausmachen, wo man sich trifft und abspricht, wenn man Pause hat. Das ist dann die Grundlage für die Organisierung. Und da hat man als Plattform-Arbeiter*in sogar mal einen Vorteil, weil der Chef oder die Chefin nicht in der Nähe ist.

Und wie konkret schaut das Austricksen des Algorithmus aus?

Eine Sache, die nicht mehr möglich ist, war zum Beispiel die Manipulierung der GPS-Ordnung über das Handy. So konnte man der App vorgaukeln, dass man woanders als tatsächlich war. Das war wichtig, um keine Abmahnung zu bekommen, weil man sich mal verspätete. Doch mittlerweile geht das nicht mehr, weil die Chef*innen das mitbekommen und diese Lücke in der Kontrolle geschlossen haben. Insofern findet ein ständiges technologisches Wettrüsten zwischen Fahrradkurieren und Lieferdiensten statt, weil auf jeden Versuch der Kontrolle ein Versuch kommt, diese zu umgehen.

In ihrem Buch geht es vor allem um sogenannte algorithmische Arbeitssteuerung, also wie anhand von Apps und Co. Arbeitsabläufe reguliert werden. Dabei haben Sie auch mit jenen gesprochen, die sich solche digitalen Kontrollmechanismen ausdenken, den Manager*innen. Was für Menschen sind das?

Zunächst muss man feststellen, dass niemand von diesen Managern sagt »Ich bin Mr. Evil«. Ihnen geht es nicht in erster Linie darum, ihre Beschäftigten ständig zu überwachen und sofort zu bestrafen, wenn ihre Handlungen von irgendwelchen Standards abweichen. Stattdessen geht es ihnen darum, Daten zu erheben und den Arbeitsprozess zu optimieren. Sie hoffen, damit auch bei den Beschäftigten einen Selbstoptimierungsprozess in Gang zu setzen.

Das hört sich ein bisschen nach Foucault im 21. Jahrhundert an, dass die Beschäftigten die ihnen von außen auferlegte Disziplin internalisieren sollen …

Nur, dass es die Beschäftigten häufig nicht machen. Stattdessen verhalten sie sich gegenüber diesen Selbstoptimierungsimperativen strategisch. Häufig versuchen sie einfach nur, den Manager*innen gegenüber den Eindruck zu vermitteln, dass sie die Prinzipien übernehmen. Doch eine solche einfache Übernahme, wie es sich die Manager*innen vorstellen, habe ich so nie gesehen.

Warum nicht?

Weil es häufig allein schon biologisch völlig unmöglich ist. Die algorithmische Arbeitssteuerung kann extrem viel Stress erzeugen. Da kann man schnell an seine körperlichen Grenzen kommen.

Sind den Manager*innen die Probleme bewusst?

Natürlich. Es gibt ja auch viel Widerstand dagegen. Besonders deutlich wird das bei der Einführung von sogenannten Wearables. Das sind zum Beispiel intelligente Handschuhe oder Datenbrillen, mit denen der Arbeitsprozess gesteuert werden soll. Da gab es teilweise so großen Widerstand, dass die Einführung wieder rückgängig gemacht wurde.

Warum wird trotzdem auf die algorithmische Arbeitssteuerung gesetzt?

Letztlich geht es um die Einbindung billiger Arbeitskraft. Da ist es egal, ob es sich um einen Essenslieferdienst oder einen Industriebetrieb handelt. Mit der algorithmischen Arbeitssteuerung werden Prozesse extrem vereinfacht. Die Beschäftigten bekommen sehr konkrete Anweisungen, was sie machen müssen, und ihre Arbeitskraft wird flexibler einsetzbar. Und attraktiv gemacht wird es den Unternehmen durch den riesigen Niedriglohnsektor, den es in Deutschland gibt.

In der Plattform-Ökonomie arbeiten nicht nur Prekarisierte im Niedriglohnsektor, sondern zum Beispiel viele sogenannte Techis, Programmier*innen. Gibt es auch von diesen Angestellten Arbeitskämpfe?

Ja, die gibt es auch in diesem Bereich. Die Tech Workers Coalition in den USA, von der es auch in Deutschland Ableger gibt, ist da eine bekannte Akteurin. Diese Kämpfe unterscheiden sich aber deutlich von jenen der prekären Plattform-Arbeiter*innen wie den Lieferbot*innen.

Inwiefern?

Während es bei Lieferbot*innen um klassische Themen wie die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen geht, stehen bei den Programmier*innen eher ethische Fragen im Vordergrund. Schließlich ist ihnen bewusst, dass die von ihnen entwickelten Technologien unser Leben extrem bestimmen - sowohl bei der Arbeit, im Politischen als auch im Privaten. Häufig drehen sich die Kämpfe darum, dass die Techis mit der Verwendung der Technologie nicht einverstanden sind, zum Beispiel wenn der Auftraggeber das US-Militär oder eine Abschiebungsbehörde sein soll.

Gibt es Verbindungen zwischen diesen beiden Gruppen von Angestellten?

Es gibt im Gegenteil häufig große Gräben, weil sich beide Gruppen fast nie treffen. In der Plattform-Ökonomie gibt es sogar häufig proletarische Subkulturen, die sich in Abgrenzung zu den Büroangestellten identifizieren. Bei den Lieferdiensten wird zum Beispiel über die sprichwörtlichen Hipster aus Berlin gemeckert, die irgendwelche Sachen entwickeln, die dann die einfachen Bot*innen ausbaden müssen. Gleichzeitig sind die Büroangestellten schwerer zu mobilisieren, weil sie höhere Löhne haben und ideologisch stärker eingebunden sind. Aber wenn man sie mobilisieren kann, geht damit eine große Produktionsmacht einher.

Sind sie nicht gewissermaßen die »wichtigeren« Angestellten, die das Management zufriedenstellen müsste?

Natürlich. Theoretisch können sie mit zwei, drei Klicks ganze Distributionsnetzwerke lahmlegen. Das weiß auch das Management. Deswegen gibt es in ihren Arbeitsverträgen absurd hohe Vertragsstrafen, falls sie mal etwas machen sollten, was in Richtung mutwilliger Sabotage gehen könnte. Gleichzeitig gibt es aber auf der anderen Seite die hohen Gehälter und die ideologische Einbindung. Nicht umsonst versuchen große Konzerne deswegen, eine Start-up-Kultur bei sich zu etablieren. Da agiert das Management nach dem Motto Zuckerbrot und Peitsche.

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