Ein neuer Imperialismus

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine wird auf beiden Seiten mit den Mitteln der Unfreiheit und zerschlissener Ideologie geführt

  • Erhard Crome
  • Lesedauer: 8 Min.

Durch die deutschen Medien geistert der Satz: »Putin trauert der Sowjetunion nach.« Das ist falsch. Sollte er nachtrauern, dann eher dem Zarenreich als der Sowjetunion. Wladimir Putin übte sich im Vorfeld des Krieges im Beschwören des Rückrufs in die Geschichte. Seine Rede an die Nation am 21. Februar 2022 zielte weiter als »nur« auf die Anerkennung der beiden »Volksrepubliken« im Donbass.

Das Ende der Sowjetunion hatte er schon 2005 eine der »größten geopolitischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts« genannt. Im Westen wurde gerätselt, was er meinte. Bereits Anfang der 1990er Jahre verwiesen russische Nationalisten darauf, unter den Zaren war das Reich in Gouvernements eingeteilt. Die waren nicht nach nationalen, ethnischen oder religiösen Gesichtspunkten organisiert, sondern Verwaltungseinheiten, auch wenn in den einen stärker diese und in anderen stärker jene Nationalität vertreten war. Verwaltungseinheiten können aus dem Gesamtstaat nicht austreten. Hauptfehler der Kommunisten sei es gewesen, dass sie das ganze Land in national definierte Sowjetrepubliken umgewandelt hätten. Nur so konnten deren Anführer 1990 auf die Idee kommen, aus der Union auszutreten.

Linke, Krieg und Frieden

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.

Diesen Gedanken griff Putin später auf. Am 21. Januar 2016 sagte er auf einer Sitzung des Rates für Forschung und Bildung der Russischen Föderation, mit dem Denken im Sinne einer Autonomisierung legten die Bolschewiki »eine Atombombe unter das Gebäude, das Russland heißt, und die zerriss es dann auch«, und setzte hinzu: »Und die Weltrevolution haben wir auch nicht gebraucht.« In diesem Sinne deuteten Putin und sein Gefolge die beiden Russischen Revolutionen von 1917: Sie wurden mit Erschütterung, Kontrollverlust und Chaos negativ konnotiert. Die Februarrevolution galt als »erste Farbenrevolution«, um »unrussische« liberale Gesellschaftsentwürfe ins Land zu bringen. Hier hatte sich Putin auf den Standpunkt gestellt, dass bereits die Februarrevolution ein Fehler war. Und die Zarenherrschaft war besser?

Insbesondere kritisierte er »die Rolle der bolschewistischen Partei bei der Zersetzung der russischen Front im Ersten Weltkrieg. Und was haben wir davon gehabt? Wir haben gegen ein Land verloren, das ein paar Monate später selbst kapituliert hat. Und wir waren die Unterlegenen der Verlierer - eine in der Geschichte einmalige Situation. Und wofür das alles? Um des Kampfes um die Macht willen.« Was hieß, Russland hätte den Krieg damals fortsetzen sollen, um ihn nicht gegen die Deutschen zu verlieren, die dann die Verlierer waren. Es hätte in Versailles mit am Tisch der Sieger gesessen. Die Kommunisten kamen nur an die Macht um den Preis der herbeigeführten Niederlage Russlands. Was 1917 der Standpunkt der Kriegsparteien war.

Insbesondere die Entscheidung der Bolschewiki in Sachen Autonomierechte sei falsch gewesen: Kulturelle Autonomie wäre gut gewesen, das Recht auf Austritt dagegen war die »Sprengladung«, die die Sowjetunion zerstört habe. Hinzu kam - so weiter Putin bereits 2016 - die willkürliche Festlegung der Grenzen, wodurch zum Beispiel der Donbass zur Ukraine gekommen sei. Eine solche Aussage ist richtig und zugleich unhistorisch. Die »nationale Frage« hätte Russland nach 1917 genauso zerstört, wie sie die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich zerlegt hat. Insofern war der von den Bolschewiki vertretene Internationalismus, der die Schaffung national definierter Staatlichkeiten in der Sowjetunion einschloss, die Möglichkeit, die »russische Erde« nach Krieg und Bürgerkrieg wieder einzusammeln.

Bedingung dafür war die Macht der Kommunistischen Partei. Deren Fall brachte die nationalen Egoismen wieder zum Vorschein. An der Spitze allerdings stand der Egoismus von Boris Jelzin, Michail Gorbatschow zu entmachten, indem er die Union zerstörte. Hier wäre dann weiter zu diskutieren, ob wirklich der Nationalismus die Union zerstört hat oder am Ende nicht vielmehr eine Konstellation von Personen, nach dem Motto: »Männer (oder auch Frauen) machen die Geschichte.«

Die Ukraine, die 1991 unabhängig wurde, war in sich gespalten. Der früher nicht-russische Westteil des Landes schielte weiter intensiv nach Westen, und der zuvor russische Osten wollte die Bindungen an Russland nicht verlieren. Die faschistischen Kampfgruppen, die 2014 auf dem Kiewer Maidan die Polizeikräfte der rechtmäßigen ukrainischen Regierung unter Präsident Wiktor Janukowytsch schlugen, waren, wie unabhängige Journalisten bereits damals recherchiert hatten, seit den 1990er Jahren in der Westukraine illegal mit US-amerikanischer Finanzierung ausgebildet worden. Die geopolitische Notreaktion Russlands, die Krim in die Russische Föderation einzugliedern und die »Volksrepubliken« der russischen Nationalisten im Donbass zu unterstützen, veränderte jedoch das politische Kräfteverhältnis innerhalb der real verbliebenen Ukraine nachhaltig. Der Wegfall der pro-russischen Wähler von der Krim und im Osten ermöglicht den pro-westlichen Parteien seit 2014 eine dauerhafte strukturelle Mehrheit, was durch die Unterdrückung russischsprachiger Medien sowie das Verbot der Kommunistischen Partei und weiterer, als »separatistisch« eingestufter politischer Parteien 2015 noch verstärkt wurde.

Vieles in Putins Rede am 21. Februar 2022 war nicht neu, aber auf den Anlass bezogen neu zusammengeführt. Er unterstrich, dass die Lenin’schen Prinzipien des Staatsaufbaus nicht einfach ein Fehler, sondern schlimmer als ein Fehler waren, wie sich beim Zerfall der Sowjetunion zeigte. Wenn man in Sachen Ukraine die »Dekommunisierung« vorantreiben wolle, gehe es nicht nur um Lenin-Denkmäler, sondern um die falschen Entscheidungen im Staatsaufbau. Das war ein Alarmzeichen. Die Signale wurden auf Krieg gestellt. Nach dem Ende der Sowjetunion und des Realsozialismus im Osten Europas befinden wir uns wieder in einer Epoche des Imperialismus, in einem weltweiten imperialistischen System. Das gilt ungeachtet dessen, welche Länder historisch im Aufschwung oder historisch im Abschwung sind, auf Krieg und Militär oder eher auf eine friedliche Entwicklung setzen.

Lenin schrieb 1916, es gebe nicht nur etwas, »worum die Kapitalisten Krieg zu führen haben«, sondern sie könnten auch nicht anders, als Krieg zu führen, »wenn sie den Kapitalismus erhalten wollen, denn ohne eine gewaltsame Neuverteilung der Kolonien können die neuen imperialistischen Länder nicht die Privilegien erlangen, die die älteren ... imperialistischen Mächte genießen«. In diesem Sinne führt der oben genannte »Oligarchen-Kapitalismus« Russlands Krieg gegen den »Oligarchen-Kapitalismus« der Ukraine, um diesen nicht den alten imperialistischen Mächten des Westens zu überlassen. Zugleich ist es ein Krieg um die Umverteilung der geopolitischen und wirtschaftlichen Macht auf dem Gebiet der einstigen Sowjetunion, unter Aufkündigung der Nomenklatura-Kompromisse von 1991. Die Gewinner des neuen Kapitalismus wurden, auch in Verbindung mit den nachgewachsenen Neureichen in beiden Ländern, zu einer neuen »Oligarchen«-Klasse, die sich gegeneinander ausrichten.

Manfred Schünemann, einer der besten aus der DDR kommenden Kenner der Ukraine, beschrieb nach der sogenannten Orangenen Revolution 2004 den Stand der Dinge wie folgt: »In der Ukraine verläuft der Prozess der nationalstaatlichen Identitätsbildung aufgrund der geschichtlichen Entwicklung und der geistig-kulturellen Zweiteilung des Landes besonders kompliziert und widersprüchlich. ... Ein Schwerpunkt der ›Ukrainisierung‹ ist die Formierung eines eigenständigen, nationalen Normen- und Wertesystems, wobei die historisch außerordentlich kurzen Zeitperioden staatlicher Eigenständigkeit kaum bzw. nur bedingt für die Fortführung der über Jahrhunderte unterbrochenen nationalstaatlichen Identitätsbildung genutzt werden können. Erschwerend wirkt sich zudem der Umstand aus, dass die Formierung der ukrainischen nationalstaatlichen Identität zwangsläufig mit einer geistig-kulturellen Abgrenzung von Russland verbunden ist, was in weiten Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung bzw. Unverständnis stößt.« Ein paradoxes Ergebnis der Entscheidung Putins zum Krieg ist, diesen Prozess der Identitätsbildung in der Ukraine rasant beschleunigt zu haben. Die im Wesen imperiale Idee, es gäbe keinen Unterschied zwischen Ukrainern und Russen, wird im bewaffneten Kampf widerlegt.

Zugleich zieht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj alle Register der nationalstaatlichen Konstituierung, die schon die französische Republik nach 1789 spielte. Alle waffenfähigen Männer werden ausgehoben und zu den Waffen gerufen, das gesamte Land und seine Wirtschaft der Kriegsführungsfähigkeit unterworfen. Eine Kapitulation, selbst örtlich, soll grundsätzlich ausgeschlossen werden, auch wenn - wie in Mariupol - alles in Scherben fällt. Die verbliebenen »prorussischen« Parteien, darunter die Partei »Oppositionsplattform für das Leben« - sie war mit 13 Prozent bei den Parlamentswahlen 2019 die zweitstärkste Kraft - wurden im März verboten.

»Die Aktivitäten von deren Politikern, die auf die Spaltung oder Kollaboration abzielen, werden keinen Erfolg haben, dafür aber eine harte Antwort erhalten«, verkündete Selenskyj. Konkrete Aktivitäten im Dienste des russischen Präsidenten wurden ihnen nicht nachgewiesen. Es genügt die falsche Denkweise. Der international tätige ukrainische Filmregisseur Sergei Loznitsa hatte sich gegen einen generellen Boykott russischer Filme ausgesprochen. Weil er sich als »Kosmopolit« bezeichnet hatte, wurde er aus der ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen. »Angesichts des Krieges sollte jeder Ukrainer sich zu seiner nationalen Identität bekennen«, hieß es.

Damit sind Patriotismus und nationalistische Einstellung in der Ukraine nicht mehr eine Sache der Gesinnung und der freiwilligen persönlichen Entscheidung, sondern staatlich verordnet. Widerworte werden sofort, unverzüglich geahndet, wie in Russland zur selben Zeit jede öffentliche Kritik an Krieg und Kriegsführung. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist kein Krieg zwischen Freiheit und Demokratie auf der einen und autoritärer Herrschaft auf der anderen Seite, wie in deutschen Offizialmedien immer wieder voller Eifer behauptet, sondern ein Krieg zwischen Reich und Nation. Er wird auf beiden Seiten mit den Mitteln der Unfreiheit und in den zerschlissenen ideologischen Verkleidungen des 19. Jahrhunderts ausgetragen.

Erhard Crome: Nation, Nationalismus und der Krieg in der Ukraine. Texte zu einem alten Thema. Verlag am Park, 230 S., br., 17 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal