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Leben als ein Trotzdem
Das Trauma des Krieges und die Kraft des Erzählens: Carsten Gansel hat ein spannendes Buch über »Otfried Preußlers frühe Jahre« veröffentlicht
Kinder seien für Otfried Preußler (1923–2013) ein »ganz besonderes Publikum« gewesen, schreibt Carsten Gansel. Eins, das sich »nicht manipulieren« oder »für dumm verkaufen« lasse und das keine gelenkten Lesetrends kenne, »keine Bestsellerei«. Wobei Preußler selbst Bestseller gelangen: Über 30 Bücher, in 55 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft. »Die kleine Hexe«, »Der Räuber Hotzenplotz« und »Das kleine Gespenst« sind mittlerweile Klassiker.
Sein großer Roman »Krabat« (1971), an dem er 15 Jahre gearbeitet hat und gewissermaßen zwischendurch den »Hotzenplotz« erfand, war dort, wo er spielt, bei Erscheinen kaum präsent: in Deutschlands Osten. In der DDR wurden die Krabat-Bücher von Jurij Brězan gelesen, der sich ebenfalls diesem sorbischen Sagenstoff aus der Lausitz zuwandte. Erst nach 1989 wurden die Preußler-Bücher im Osten, wo Lizenzausgaben Devisen gekostet hätten, populär.
Otfried Preußler wurde 1923 in Reichenberg, heute Liberec, geboren. Zuerst hieß er Otfried Syrowatka, bis sein Vater Josef 1941 seinen Nachnamen gegen den seiner Großmutter tauschte. Es war auch der eines berühmten Kupferstechers, eines ihrer Vorfahren. Sein Vater war ein leidenschaftlicher Heimatforscher und machte ihn mit lokalen Sagen vertraut, was er später die »Macht des Geschichten-Erzählens« nannte. Wohl erstmals wird hier seinem Schicksal nachgegangen, das eng mit dem Problem der Sudetendeutschen und ihrer Ausgrenzung in der Tschechoslowakei nach 1945 zusammenhängt.
Für Carsten Gansel ist Otfried Preußler »Kind einer schwierigen Zeit«, wie er seine Biografie über dessen »frühe Jahre« betitelt hat. Ihm ist dabei ein großes, bewegendes Gesellschaftsbild gelungen. Denn Preußler steht für eine ganze Generation junger deutscher Männer, deren bis dahin friedliches Leben einen jähen Bruch erfuhr, als sie in einen mörderischen Krieg geworfen wurden, dem sie sich persönlich kaum widersetzen konnten. Da stellt sich für Carsten Gansel auch ein Bezug zu anderen Schriftstellern her: Franz Fühmann, Johannes Bobrowski, Erich Loest, Dieter Wellershoff, Erwin Strittmatter, Günter Grass … Kurz nach dem Abitur wurde Preußler 1942 zum Militärdienst eingezogen. Mit nicht mal 20 Jahren war er als Leutnant für eine Einheit verantwortlich und fühlte sich unter großem Druck.
Carsten Gansel – 1955 in Güstrow geboren – ist Literaturprofessor an der Universität Gießen. Er hat einmal die Archivarbeit als Königsdisziplin der Literaturwissenschaft bezeichnet. Erkunden, was wirklich gewesen ist, statt nur immer wieder neue Interpretationen aneinanderzureihen. Auf diese Weise hat er schon mehrere sensationelle Funde gemacht. So hat er die Urfassung von Heinrich Gerlachs Roman »Durchbruch bei Stalingrad«, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft entstanden war, sowie dessen autobiografischen Bericht »Odyssee in Rot« in russischen Archiven ausfindig gemacht. Auch »Wir selbst« von Gerhard Sawatzky über die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen war seine Entdeckung.
Als er in Moskau im Russischen Staatlichen Militärarchiv auf der Suche nach Gerlachs Roman war, stieß er auf die Kriegsgefangenenakte von Otfried Preußler. Was für ein Fund: Neben biografischen Details waren darin auch literarische Texte zu entdecken, die nun in diesem dicken Band nachzulesen sind, zusammen mit späteren, mit denen der Autor für sich die »Schleusen des Gedächtnisses« öffnete, wie er es nannte.
Das Schweigen der Väter – Nachgeborene jener Kriegsgeneration haben es oft nicht verstehen können. Da erinnere ich mich an den Literaturstreit um Erwin Strittmatter, von dem es hieß, er habe seine schlimmen Erlebnisse während des Krieges verschwiegen, seine Wirklichkeit literarisch »poetisiert«. Dieses Buch von Carsten Gansel lesend, begreife ich: Es ist keine Ausnahme, sondern der Normalfall, dass die persönlichen Erfahrungen so verstörend, die Erinnerungen so schmerzhaft waren und das Gedächtnis sich dagegen wehrte. Als Täter wurden sie gesehen, die etwas wiedergutzumachen hatten. Dass sie ebenso auch Opfer gewesen sind, diese Erkenntnis brauchte Zeit. Gansel zitiert den Neurophysiologen Hans J. Markowitsch, dem zufolge unser Gehirn »permanent« ordnet, gewichtet und unterdrückt, »was uns das Überleben erschwert«. Im Alter aber würden die »hemmenden Netzwerke immer löchriger, das Gedächtnis verliert zunehmend Kapazität, die verdrängten Erinnerungen zu zähmen«.
Wie für Preußler die Erinnerungen zurückkamen und was er wirklich erlebte, formt sich hier zu einer beeindruckenden Geschichte. Gansel war im tatarischen Jelabuga, wo es bereits vor dem Ende der Schlacht um Stalingrad ein Kriegsgefangenenlager gab. Er schildert, wie Preußler dort ankam und wie eine sowjetische Ärztin sich im Lazarett freundlich um ihn kümmerte: »Mein Gott, wie Sie aussehen, bloß noch Haut und Knochen!« Der junge Mann litt an Dystrophie, den Folgen chronischer Unterernährung, die zu Depressionen und Gedächtnisschwund führen.
»Mit der Gefangennahme und der Verbringung in ein Lager befinden sich die Gefangenen in einer Art Schicksalsgemeinschaft«, schreibt Carsten Gansel. Andererseits gehörte es für Preußler zu den schlimmsten Belastungen, dass du »niemals für dich allein sein konntest«. Für Preußler, der Ende August 1945 ins sogenannte Silikatlager nach Kasan kam und dort in einer Ziegelei sowie beim Transport arbeitete, sich aber auch als Wandzeitungsredakteur sowie in einer Theatergruppe betätigte, wurde das Schreiben existenziell bedeutsam.
»Literatur – das ist ein anderes Wort für Ausweg«, hat Hermann Kant einmal gesagt, der, drei Jahre jünger als Preußler, nur sechs Wochen an der Front war und dann vier Jahre im Zuchthaus und in einem Arbeitslager auf dem Gelände des Warschauer Ghettos. Auch er brauchte Jahre, um sich mit »Der Aufenthalt«, seinem bedeutendsten Roman, dieser Zeit literarisch zuzuwenden.
Der Umschlag von Gansels Buch zeigt einen Vogel, der sich über Stacheldraht erhebt. Als Otfried Preußler aus dem Lager entlassen wurde, hatte er Glück: Er fand seine Familie wieder und auch die geliebte Frau. Gansel nennt ihn einen »wahnsinnig fleißigen Menschen«, der irgendwie Geld verdienen musste, aber immer auch schreiben wollte. Der Erfolg kam erst mit der Hinwendung zur Kinder- und Jugendliteratur. Indem er sich auf die glückliche Kindheit besann, auf die Sagen und Märchen, die er damals in sich aufnahm. All die märchenhaften Zauberwesen, die er zum Leben erweckte, sie halfen ihm.
Leben als ein Trotzdem: Mochten manche Erwachsene ihm auch die Flucht in die Fantasie vorwerfen – die Kinder liebten ihn. Und »Krabat« war für ihn auch der Roman seiner Generation, dessen Hauptfigur mühsam lernt, »Nein« zu sagen. Gansels spannendes Buch führt uns nun erstmals vor Augen, dass Otfried Preußler nicht einfach der freundliche Märchenonkel war, der er lange schien.
Carsten Gansel: Kind einer schwierigen Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre. Galiani Berlin, 558 S., geb., 28 €.
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