Stutthof-Prozess: Ein Wegsehen war unmöglich

Gericht wertet Erkenntnisse aus Ortsbegehung in KZ-Gedenkstätte aus

  • Dieter Hanisch
  • Lesedauer: 3 Min.

Der 34. Tag der Verhandlung gegen Irmgard F. vor der Jugendkammer des Itzehoer Landgerichts wegen des Vorwurfs ihrer Beihilfe am systematischen Mord an insgesamt 11 387 Gefangenen im ehemaligen Konzentrationslager Stutthof bei Danzig stand ganz im Zeichen des am 4. November erfolgten Ortstermins am Tatort der NS-Massentötungen. Für die Nebenklagevertreter steht nach dem Besuch der heutigen polnischen Gedenkstätte fest: Die Angeklagte muss all die verbrecherischen Geschehnisse bei ihrer Tätigkeit als zivile Schreibkraft von 1943 bis 1945 in der Lagerkommandantur mitbekommen haben.

Ganz anders bewertet die Verteidigung den dreistündigen Termin zur Inaugenscheinnahme des damaligen Tatorts. Entsprechend stellte Wolf Molkentin einen Antrag, das vom vorsitzenden Richter Dominik Groß verlesene zehnseitige Protokoll nicht für die Beweisaufnahme zuzulassen. Während des Vortrags des Richters wurden begleitend zahlreiche Lichtbilder gezeigt, die sich auch Irmgard F. interessiert anschaute.

Für das Gericht ging es vor allem darum, sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen, welche Sichtmöglichkeiten es von welchen Räumen des Kommandanturgebäudes auf das umliegende Gelände gab und welche damaligen Lagerabschnitte dabei im Blickfeld gelegen haben müssen. Zur Einordnung und wegen seines Detailwissens über das vergleichsweise kleine Lager Stutthof wurde die deutsche Reisegruppe 77 Jahre nach den NS-Verbrechen vom im aktuellen Prozess bereits mehrfach als Sachverständigen zu Wort gekommenen Historiker Stefan Hördler begleitet. Der Besuchstermin des Landgerichts Itzehoe war der erste eines deutschen Gerichts nach Kriegsende in dieser Gedenkstätte.

Die hochbetagte Angeklagte machte den Ortstermin nicht mit. Ihr Anwalt Molkentin kritisierte im Laufe des Prozesses bereits mehrfach Hördlers Einlassungen. Besonders entlastende Aspekte für F. habe der Historiker komplett ausgespart. Für die Projizierung geschichtlicher Zusammenhänge auf seine Mandantin stütze sich Hördler vornehmlich auf Schlussfolgerungen, so Molkentin, der Richter Groß bezüglich des Ortstermins in der Vorwoche empfohlen hatte, sich mehr auf seine eigenen Wahrnehmungen zu verlassen und weniger auf die Bewertungen des Historikers.

Und dann ging der Strafverteidiger noch einmal auf die Sichtachsen aus der Schreibstube, dem Arbeitsplatz von F., ein. Für ihn gab es von dort lediglich einen Blick auf das Areal des neuen Lagerteils, aber vor allem nicht auf die Gaskammer und das Krematorium. Seit Prozessstart vor mehr als einem Jahr hat F. von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Keine einzige Zeugenaussage von Lagerüberlebenden hat sie persönlich belastet, niemand konnte sie eindeutig identifizieren. Auch wurde kein Dokument mit einer Unterschrift von ihr gefunden. Somit läuft alles auf einen Indizienprozess hinaus und dabei insbesondere auf die Bedeutung von Hördlers Aussagen zur genauen Rolle von F.

Es hatte zwar im Zuge der Strafverfolgung von SS-Lagerkommandant Paul Werner Hoppe 1954 auch Vernehmungen und eine Zeugenaussage von F. gegeben, doch diese darf im laufenden Prozess nicht verwendet werden. Auch 1964 und 1982 wurde sie zu Stutthof befragt – aber eben nicht als Beschuldigte. Auch diese Quelle bleibt auf Betreiben Molkentins daher für die Anklage im laufenden Prozess verschlossen. Auch erlangte Erkenntnisse aus einer Befragung 2017 durch einen Staatsanwalt in Begleitung eines Kriminalbeamten im Zimmer ihres Altenstifts hält Molkentin für nicht verwertbar.

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