Reise nach Kiew vor 50 Jahren

Dichtung und Wahrheit im neuen Roman des Potsdamer Autors Karl-Heinz Otto

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Maximilian Gernlebe ist Offizier der Nationalen Volksarmee und im Verteidigungsministerium in Strausberg eingesetzt. Es ist nicht das, wonach er sich sehnt. Er fühlte sich nur verpflichtet, seine Heimat DDR zu schützen. Darum wurde er Berufssoldat. Doch nun neigt sich seine Dienstzeit ihrem Ende zu und er möchte am Leipziger Literaturinstitut studieren und Schriftsteller werden. Einen ersten Roman hat er bereits verfasst und in einer Auflage von 10 000 Exemplaren im Militärverlag veröffentlicht.

Nun sucht er Inspiration. Anstatt mit Frau und Kindern den Sommerurlaub des Jahres 1972 an der Ostsee zu verbringen, besteigt Gernlebe am Flughafen Schönefeld eine Maschine nach Kiew. Für einen Kurs an der Militärakademie ist er bereits einmal dort gewesen. Jetzt hat ihn die Lyrikerin Tatjana eingeladen ins Land der frohen Zuversicht, wie Gernlebe die Sowjetunion nennt. Schließlich wird dort bereits der Kommunismus aufgebaut, während die DDR noch im Vorstadium des Sozialismus verharrt, denkt er. So predigt es die Propaganda.

Das ist der Ausgangspunkt für den Roman »Tanjuscha«, der autobiografische Züge trägt. Der brandenburgische Autor und Verleger Karl-Heinz Otto hat ihn im gerade zu Ende gegangenen Jahr 2022 in seiner eigenen Edition Märkische Reisebilder publiziert. Geschrieben hat er das Buch bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Jetzt meint er, dass sein Roman, obwohl er vor 50 Jahren spielt, auch etwas zur Erklärung der heutigen Verhältnisse beitragen könne. Das kann dieses Stück Literatur tatsächlich.

Die Begegnung mit der ungeschminkten Wirklichkeit in der Sowjetunion ist für den Romanhelden Gernlebe ein Schock. In Kiew sowie am Grab des von Gernlebe verehrten Kinderbuchautors Arkadi Gajdar („Timur und sein Trupp») und auch in dem Dorf, in dem seine Gastgeberin Tatjana aufgewachsen ist, lernt Gernlebe eine Welt kennen, die sich sehr von seinem Idealbild unterscheidet. Es irritiert und erschüttert ihn, in einem literarischen Salon von zwei Ukrainern gefragt zu werden, ob es in der DDR auch solche Probleme mit den Juden gebe wie hier, wo sie sich überall breit machten. Dass der Antisemitismus nicht mit dem Sturz des Zaren 1917 verschwunden ist, erfährt Gernlebe dann auch von einem alten Juden, der ihm sagt, die deutsche SS hätte im Zweiten Weltkrieg nicht so viele Juden töten können, wenn ihr ukrainische Nationalisten damals nicht dabei geholfen hätten.

Leidenschaften, Liebe und Hass, Missgunst und Mitgefühl, ukrainischer Nationalstolz, eine historische und emotionale Bindung zu den Russen, aber zugleich auch das Gefühl der Ukrainer, von den Russen schon immer als minderwertig angesehen und von ihnen unterdrückt zu werden – all dies kommt in dem Roman vor. Auch die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Verschleppung der »Kulaken« nach Sibirien, Großbauern, die oft so sehr viel Ackerland, aber kein Vieh besaßen, spielen eine wichtige Rolle, ebenso die Hungersnot von 1932. Jene von Missernten und durch politische Direktiven verursachte Hungersnot stufte der Bundestag Ende November mehrheitlich als gezielten Völkermord ein, so wie es der heutigen ukrainischen Geschichtsschreibung entspricht, jedoch nicht der wissenschaftlichen Definition eines Völkermords. Schrecklich waren die damaligen Ereignisse jedoch auch ohne das Etikett Genozid.

Der Leser muss sich in Ottos Roman erst einmal hineinfinden, der sich mit Anleihen an die klassische russische und ukrainische Literatur immer weiter an die berühmte russische (und ukrainische) Seele herantastet und von großer Menschlichkeit geprägt ist. Es lohnt sich. Von der Handlung soll hier nicht noch mehr verraten werden, um niemandem die Spannung zu nehmen. Darum nur so viel: Bei aller Enttäuschung glaubt Gernlebe nach seiner Reise in die Ukraine nicht an den Zusammenbruch der Sowjetunion und er glaubt auch nicht an das Ende der DDR, das er dann am Schluss des Buches noch in Potsdam erleben muss. Kann er sich ein neues Leben aufbauen und seinen Platz in der Bundesrepublik finden?

Karl-Heinz Otto: Tanjuscha. Edition Märkische Reisebilder, 474 S., 25 €. Bestellung direkt beim Autor unter Tel.: (0331) 2701787 oder per E-Mail unter dr.carlotto@t-online.de

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