Bitte mehr nörgeln

Olivier David über eine Studie zum Wohlbefinden der Menschen in Deutschland

  • Olivier David
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie kennen das Klischee des Deutschen, der mit weißen Tennissocken unter den Sandalen über das Wetter mosert, den Heckenschnitt der Nachbarn kritisch beäugt und den Zustand der Welt bejammert – und sich selbst gleich mit. Immer gibt es etwas zu beklagen. Nie ist man zufrieden.

Dieses Bild wird alle Jahre wieder von Studien aufgefrischt, die belegen, was gefühltes Wissen eines jeden Menschen ist, der jemals einen Fuß in dieses heilige Land der Dichter, Denker und Miesmacher gesetzt hat. Dürfte man nur zwei Buchstaben (beliebig oft) verwenden, um Deutsche zu beschreiben, man käme hervorragend hin mit: Mimimi oder wahlweise Grrrrr.

Olivier David
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Für den »Playboy« befragte das Meinungsforschungsinstitut Norstat 1002 repräsentativ ausgewählte Frauen und Männer in Deutschland. Das Ergebnis? 58 Prozent der Menschen befanden sich selbst und ihre Mitmenschen als »nicht so gut« bis »schlecht gelaunt«. Weitere Kennzahlen des deutschen Missmuts: Die Inflation hat mit 64 Prozent einen hohen Einfluss auf die Stimmung so wie der Krieg in der Ukraine (58) und die Bürokratie (54).

Die Gründe für die gedämpfte Stimmung hierzulande waren laut den Teilnehmer*innen der Studie »äußere Anlässe« und »mentale Eigenschaften«. Für den »Spiegel« reicht das, die Erhebung als »Nörgelstudie« abzutun. Dabei lohnt es sich, genauer hinzugucken. Neben der Inflation beklagten sich 36 Prozent über den sinkenden Wohlstand. 39 Prozent der Befragten fanden die Charaktereigenschaft »Neid« hierzulande stärker ausgeprägt als im Ausland.

Jetzt eine Suggestivfrage: Was haben Neid, Angst vor der Inflation und die Furcht vor sinkendem Wohlstand gemein? Richtig, sie sind Ausdruck ungleicher Gesellschaften. Zufälligerweise ist Deutschland eines der Länder mit hoher Ungleichheit im europäischen Vergleich – auch wenn die Ungleichheit zuletzt ein wenig gesunken ist.

Auch den unbeliebten Neid der Deutschen kann man natürlich unsympathisch finden. Oder man betrachtet ihn als Symptom von Interessensgegensätzen. Der Schriftsteller Christian Baron hat im »Freitag« ein Plädoyer für den Neid geschrieben. Dort sagt er: »Wer Menschen in einen permanenten Wettbewerb zwingt, muss Neid ebenso wie Kämpfe um Vorteile und Begünstigungen als Alltagsgefechte hinnehmen.«

»Obwohl ich hart arbeite, hast du so viel mehr als ich.« Das ist Neid. Niemand sagt gerne von sich, dass er neidisch ist. Für Baron ist der Neid jedoch auch mit einer Kritik an unserer Klassengesellschaft verbunden, die Ungleichheit über die Geburtenlotterie produziert. Sind wir damit nicht viel dichter bei der Wahrheit als das Klischee des sauertöpfischen Deutschen, der die Unzufriedenheit aus sich selbst herausnimmt? Denn was die Studie auch liefert, ist eine Mutmaßung darüber, wo die zufriedensten Menschen in Europa leben. Genannt werden hier Dänemark, Italien und die Niederlande.

Das ist natürlich erstmal nur der Blick der Deutschen auf ihre Nachbarländer. Einer Erhebung von Statista zufolge liegen sie mit ihrer Vermutung aber gar nicht so falsch. Demnach sind die Dänen das zweitglücklichste Land der Welt, dicht gefolgt von den Niederländern, die auf Platz fünf liegen. Dänemark (Platz sechs) und die Niederlande (Platz sieben) gehören zu den reichsten Ländern Europas, während Deutschland auf Platz zwölf liegt.

Warum sich aber überhaupt gute Laune diktieren lassen, dort wo der Frust über das Scheitern das ehrlichere Gefühl ist? Diese Frage hat sich die Autorin Juliane Marie Schreiber in ihrem Bestseller »Ich möchte lieber nicht« gestellt. Sie schreibt: »In einer Welt, in der man aus jedem Problem und jeder Krankheit etwas lernen muss, in der die exzessive Nabelschau alle in den Wahnsinn treibt, kann es nur eine richtige Haltung geben: die Haltung des Nein«.

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