Im Angesicht der Arbeitslosigkeit

Christina Glanz fotografierte 1993 in einer Brikettfabrik in Lauchhammer die Kündigung der Belegschaft

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 6 Min.
Und nun? Kündigung in Lauchhammer am 28. Januar 1993
Und nun? Kündigung in Lauchhammer am 28. Januar 1993

»Unsere Arbeit war schwer. Unsere Arbeit war schmutzig. Und doch war diese Arbeit unser Leben.« Das sagte ein Arbeiter der Brikettfabrik 69 in Lauchhammer 1992 an dem Tag, an dem das Werk stillgelegt wurde. Christina Glanz hat damals die letzte Schicht fotografiert, fünf Männer und fünf Frauen, mit rußverschmierten Kitteln, Helmen und Gesichtern vor dem Backsteinkomplex, dicke Rohrleitungen im Hintergrund. Das Drama ihres Lebens ist diesen Menschen deutlich anzusehen. Hernach begann der Abriss der Industrieanlagen. Nach rund 100 Jahren Brikettpressung in Lauchhammer blieben von den Betrieben nur Schornsteine übrig, die sogenannten Biotürme. Mit der Demontage hatte die Belegschaft noch eine Weile zu tun, dann war es aus.

Die freischaffende Fotografin Glanz hatte vom Lauchhammerwerk den Auftrag, Erzeugnisse abzulichten. Deshalb war sie vor Ort und begann 1991, auch die Menschen zu fotografieren, als die Fabriken noch in Betrieb waren. Doch den Gesichtern der Arbeiter ist da schon deutlich anzusehen, was auf sie zukommt. Sie ahnen das nahe Ende.

Am 28. Januar 1993 ist Glanz zufällig in der Brikettfabrik 64. Sie weiß vorher nicht, was an diesem Tag geschieht. Sie bekommt es zufällig mit. Da trifft sie einen mit einem Briefumschlag in der Hand. Er hat gerade seine Kündigung erhalten. In einem kleinen Büro sitzt ein Meister und nimmt die Briefe mit den Kündigungsschreiben aus einem Pappkarton, überreicht sie den nacheinander eintretenden Kollegen. Christina Glanz eilt mit einer Kleinbild- und einer Spiegelreflexkamera dorthin und bittet die Leute, die gerade ihre Arbeit verlieren, sie fotografieren zu dürfen. Weil sie schon seit zwei Jahren in den Brikettfabriken unterwegs ist, kennt man Glanz. Etliche Kollegen erlauben ihr, diesen schlimmen Moment im Bild festzuhalten. »Die Menschen hatten Vertrauen zu mir«, sagt Glanz. Sie hat dieses Vertrauen nicht missbraucht. Ihre Fotos haben nichts Reißerisches, nichts Voyeuristisches. Jedes einzelne Bild atmet ehrliches Mitempfinden und zeigt große Achtung vor den Menschen, für die gerade eine Welt zusammenbricht.

28 der damals entstandenen Porträts und viele weitere von Christina Glanz in Lauchhammer aufgenommene Fotos zeigt das Potsdamer Haus der brandenburgisch-preußischen Geschichte (HBPG) jetzt in einer Ausstellung oben unter dem Dach. Die Serie von den je 14 gekündigten Männern und Frauen ist besonders eindrücklich. Es ist eine Auswahl. »Ich habe doppelt so viel davon«, sagt Glanz am Donnerstag bei einem Vorbesichtigungstermin für Journalisten. Eine der gekündigten Frauen trägt ihre Straßenkleidung, einer der Männer einen Anzug, die meisten aber stehen da in ihrer Arbeiterkluft. Wieder der Ruß auf den Helmen und in den Gesichtern. Wütend, erschüttert, den Tränen nah, verzweifelt, entmutigt, nachdenklich – diese Gefühlsregungen sind den Mienen der einzelnen Personen abzulesen.

Was aus den Menschen geworden ist? Christina Glanz weiß es nur zum Teil. Viele landeten in Auffanggesellschaften, viele wurden umgeschult. Einige erzählten ihr, was sie da lernen sollten. Das bräuchten sie später ganz gewiss nicht, um wieder einen Job zu finden. Einige Frauen lernten den Holzbau und fertigten ganz herrliche Häuschen, bekamen damit aber trotzdem keine Perspektive. Eine Frau sei zur Gärtnerin umgeschult worden und habe viele Jahre in München gearbeitet. Als Rentnerin sei sie in die alte Heimat zurückgekehrt. Diese Frau hatte noch Glück.

Mit bereitliegenden Kopfhörern können Besucher der Ausstellung die Stimmen der Frauen hören. Eine erinnert sich: »Das ging so auf die Psyche, weil wir das gar nicht kannten, arbeitslos zu sein.« Sicher habe sie in der Brikettfabrik schwere körperliche Arbeit leisten müssen. Aber sie hätte es lieber weiter getan, als untätig zu Hause zu sitzen. Die Behandlung auf dem Arbeitsamt sei entwürdigend gewesen, Bewerbungen zwecklos, weil es ja doch keine freien Stellen gab. Irgendwie fand die Frau dann für kürzere oder längere Zeit den einen oder anderen Job, zum Beispiel als Verkäuferin. Sie schlug sich durch, aber es war eine schreckliche Zeit. Vom Arbeitsamt sei sie nie vermittelt worden, berichtet diese Frau. Da sei den Erwerbslosen nur gesagt worden, sie sollten doch weggehen auf Montage, ins Ausland. Aber Lauchhammer sei doch ihre Heimat gewesen, an der sie hingen.

Christina Glanz konnte die Situation der Arbeiterinnen gut nachfühlen. Es ging ihr damals im Prinzip genauso. Mit der Wende brachen der freischaffenden Künstlerin die Aufträge weg. Zeitweise hatte sie immerhin eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme beim Umweltnetzwerk Grüne Liga. Sie wollte doch aber Fotografin sein. Dafür schlug ihr Herz schon seit 1976. Glanz war 1946 im thüringischen Eichsfeld zur Welt gekommen, hatte Architektur an der Technischen Universität Dresden und an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee studiert. Ab 1973 hatte sie im staatlichen Büro für Städtebau in Berlin gearbeitet und dort in der Planungsgruppe für den neuen Plattenbaubezirk Marzahn mitgewirkt. 1982 wurde Christina Glanz in den Verband bildender Künstler der DDR aufgenommen und war seither freischaffende Fotografin. Heute lebt sie in Oranienburg.

Die jetzt in Potsdam gezeigte Ausstellung »Ich würde sofort wieder in die Kohle gehen ...« sei die bisher umfangreichste Präsentation des Werkes von Christina Glanz, die anderthalb Jahre lang vorbereitet worden sei, sagt Museumsdirektorin Katja Melzer. Und doch werde natürlich nur eine kleine Auswahl ihrer Fotos gezeigt. Warum gerade jetzt? Es liegt eigentlich auf der Hand: Weil das Lausitzer Revier mit dem Ausstieg aus der Braunkohle spätestens im Jahr 2038 erneut einen Strukturwandel erlebt, wenngleich es dabei höchstwahrscheinlich lange nicht so viel wird durchmachen müssen wie damals Anfang der 90er Jahre, als mit der Stilllegung etlicher Tagebaue und Brikettfabriken fast über Nacht Zehntausende Kohlekumpel, Kraftwerker und sonstige Beschäftigte der Braunkohleindustrie ihre Arbeitsplätze verloren.

Kaum einer hat die damalige Stimmung so gut eingefangen wie der Baggerfahrer und Liedermacher Gerhard Gundermann (1955–1998). Dabei hatte er schon die Umweltzerstörung im Blick, aber auch die Tragik der Bergleute. »Ich war’n Bergmann,/ weiter hab ich nischt gelernt,/ ich hab dieses Land in jedem Winter treu gewärmt«, sang Gundermann. »Ach, meine Grube, Brigitta, ist pleite,/ und die letzte Schicht lang schon verkauft./ Und mein Bagger, der stirbt in der Heide,/ und das Erdbeben hört endlich auf.«

Mit ihren Mitteln hat Fotografin Glanz das Thema künstlerisch mindestens ebenbürtig umgesetzt. »Ihr Werk greift so viele Fragen auf, die uns auch heute bewegen«, meint HBPG-Chefkuratorin Katalin Krasznahorkai. Es seien Nahaufnahmen der Brikettfabriken in Lauchhammer, aber damit bekomme der Betrachter auch eine Weitwinkel-Sicht auf die damalige Lage. Mindestens fünfmal so viele Fotos habe Christina Glanz gemacht, wie man in der Ausstellung nun zeigen könne.

Transformation, Strukturwandel. »Die abstrakten Begriffe bekommen hier etwas sehr Menschliches, sehr Berührendes«, urteilt Direktorin Melzer. Der Bogen spannt sich von 1984 bis 2004, aber die Mehrzahl der Fotos entstand in den frühen 90er Jahren. Es werden außerdem Kopftücher gezeigt, mit denen die Arbeiterinnen der Brikettfabriken einst ihre Haare vor dem Kohlendreck schützten. Auf dem Gelände der abgerissenen Fabriken fertigte die dänische Firma Vestas später 20 Jahre lang Windräder, stellte die Produktion jedoch 2022 ein. Es übernahm eine chinesische Firma, die Batterien für Elektroautos herstellt.

Ausstellung »Ich würde sofort wieder in die Kohle gehen ... – Christina Glanz. Fotografien einer Transformation«, bis 24. März, Di–So, 11–18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Haus der brandenburgisch-preußischen Geschichte, Am Neuen Markt 9 in Potsdam; Eintritt: 7 Euro, ermäßigt 4 Euro.

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