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Ampel-Abschiebegesetz: Asyl ohne Recht
Leo Fischer über das Phänomen der politischen Selbstspaltung in der inneren WG
Politik hat sich in Kommunikation verwandelt. Dieser Tatsache haben Diejenigen, die zuletzt als Jungparlamentarier*innen in den Bundestag eingezogen sind, nahezu alles zu verdanken: Auf die Wahllisten wurden sie wegen ihrer tollen Social-Media-Postings, ihrer Reichweite und ihrer Erklärvideos gesetzt. Die roten und grünen Neu-Abgeordneten bezogen ihre Glaubwürdigkeit aus der Zusammenarbeit mit NGOs, mit Fridays for Future und Geflüchtetenorganisationen, denen sie druckreife Sätze in die Kameras sprachen. Dort war von Demokratie und Menschenrechten die Rede, von wohlkanalsiertem Zorn und versagter Gerechtigkeit. Besonders auf dem Ticket der Asyl- und Geflüchtetenhilfe zogen viele mit gutem Recht in den Bundestag, um von dort diese Themen weiterzukommunizieren
Politik hat sich in Kommunikation verwandelt – deswegen posten diese Jungparlamentarier*innen von SPD und Grünen weiter kämpferische Beiträge für soziale Gerechtigkeit und Erklärvideos zum Asylrecht. Sogar, wenn sie in der Woche zuvor das Asylrecht quasi abgeschafft haben. Das wird dann eher selten kommuniziert; es stellt sich eine paradoxe Selbstspaltung ein, wo dieselben Parlamentarier*innen ungenannt bleibende »Politiker*innen« dafür geißeln, das Asylrecht abzuschaffen – und sich faktisch selbst meinen. Die Person, die menschenverachtende Beschlüsse unterschreibt, und die Person, die flammende Plädoyers dagegen hält, bewohnen nur zufällig denselben Körper, bilden eine Art politischer WG, allerdings mit abschließbaren Türen.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegen gelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.
Der Koalitionsvertrag der Ampel ist eindeutig: »Es ist eine zivilisatorische und rechtliche Verpflichtung, Menschen nicht ertrinken zu lassen. Die zivile Seenotrettung darf nicht behindert werden.« Das wird überall kommuniziert. Dass trotzdem Beschlüsse gefasst werden, die das Menschenrecht auf Asyl abschaffen, die Seenotrettung kriminalisieren und Asylverfahren in irgendeinem juristischen Niemandsland stattfinden lassen wollen – das passiert in einer anderen Abteilung, in einem anderen Zimmer der WG.
Die Widersprüche zwischen der kommunizierten und der beschlossenen Politik schreien nur deswegen nicht zum Himmel, weil die beschlossene Politik kein Forum mehr hat, das nicht schon von der kommunizierten Politik besetzt wäre. Es gibt keine großen Influencer*innen, die das Gesetzblatt verlesen, keine Tiktok-Accounts, die den Koalitionsvertrag konsequent an den Koalitionsbeschlüssen messen. Das geschieht in einer Handvoll sterbender Medien, die viel zu wenig spaßig und viel zu wenig emotional sind, um an der kommunizierten Politik teilhaben zu dürfen.
Wenn es wenigstens taktisch einen Sinn hätte! Die Grünen, nicht zuletzt aus Solidarität mit Geflüchteten gewählt, begaben sich in der irrigen Hoffnung, der AfD ein paar Punkte abzutrotzen, auf einen Kurs kompromissloser Härte. Das Ergebnis: In Thüringen kann Höckes rechtsextreme Partei mit über 30 Prozent rechnen, in Hessen fliegen die Grünen aus der Regierung. Wenn man seine Ideale schon verkauft, hätte man zumindest etwas dafür kriegen sollen!
Politik hat sich in Kommunikation verwandelt – deswegen findet der Ausverkauf der eigenen Ideale zum Schleuderpreis natürlich nicht auf den dauerengagierten, dauerbesorgten Politiker*innenprofilen statt. Sie werden weiterhin die Konsequenzen einer Politik beklagen, vor der zu schützen wir sie einst gewählt haben und die sie bruchlos fortgesetzt haben – in einer gespielten Entrüstung über sich selbst.
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