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Gaza und Israel: Das Ringen um Worte
Zivilisationsbruch und Genozid: Über die Schwierigkeit und Notwendigkeit, die richtigen Begriffe zu finden
Wir ringen um Worte. Wie nennt man das, was am 7. Oktober 2023 in Israel geschehen ist? Wie bezeichnet man die bestialische Ermordung von 1400 Menschen, systematische Vergewaltigungen, Folter, den Mord an Babys? Pogrom? Ein solches entwickelt sich einigermaßen spontan. Der 7. Oktober aber wurde von langer Hand geplant. »Terroranschläge« klingt als Bezeichnung zu harmlos, weil es das Ausmaß und die Gleichzeitigkeit der Angriffe nicht betont. Also wie nennen, was am 7. Oktober geschah?
Zivilisationsbruch?
In Israel hat sich mittlerweile »Schwarzer Sabbath« als Begriff durchgesetzt, weil das Morden an einem Samstag (hebr. Shabbat) stattfand. Die Leiterin der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Deborah Hartmann, und der Medienwissenschaftler Tobias Ebbrecht-Hartmann sprechen in einem Artikel in der »Taz« von »genozidaler Gewalt«. Denn das Ziel der Terrororganisation Hamas sei es gewesen, möglichst viele Jüdinnen und Juden zu ermorden. Koste es, was es wolle. Die Autor*innen gehen noch weiter: Sie schreiben von einem »erneuten Zivilisationsbruch«, denn die Verbrechen zielten »auf den Kern des menschlichen Grundvertrauens, sich in der Welt sicher zu fühlen«. Es war genau diese Erfahrung in der Shoah, die der Historiker Dan Diner einst als »Zivilisationsbruch« bezeichnete.
Diese Überlegung hat Felix Axster, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung Berlin, in einem Kommentar im »nd« jüngst scharf kritisiert, weil sie die »eigentliche« Zivilisationsbruch-These »ad absurdum« führe: »Zivilisationsbruch jedenfalls meinte letztlich ›bloße Vernichtung jenseits von Krieg, Konflikt und Gegnerschaft‹ (Dan Diner)«. Definiert man den Begriff so, passt er offensichtlich nicht für den 7. Oktober. Denn die genozidale Gewalt dieses Tages hat selbstverständlich etwas mit der Konfliktgeschichte im Nahen Osten zu tun. Aber Axsters Bestimmung geht an der Definition des Zivilisationsbruchs von Dan Diner vorbei. Die von Axster zitierte Passage – »Vernichtung jenseits von realen Konflikten« – diente Diner dazu, den Holocaust vom Kolonialismus zu unterscheiden, sie ist aber nicht das hinreichende Kriterium, um von Zivilisationsbruch zu sprechen. Die Vernichtung um der Vernichtung willen war das Unvorstellbare. Was aber genau ist der Zivilisationsbruch?
»Das Ereignis Auschwitz« ist ein Zivilisationsbruch, so definiert Diner das schon im von ihm 1988 herausgegebenen Band mit demselben Titel, weil es »an Schichten zivilisatorischer Gewissheit« rühre. Es geht um eine Zerstörung eines »Mindestmaß(es) vorausgesetzten Urvertrauens«. In dem Buch »Gegenläufige Gedächtnisse« schreibt er vom »Zerbrechen ontologischer Sicherheit«. Es ist diese Bestimmung, die Hartmann und Ebbrecht-Hartmann auf den 7. Oktober anwenden: »Die neue Qualität und das Ausmaß dieser Massaker sollten zu einer völligen Zerstörung des individuellen und kollektiven Gefühls von Sicherheit führen«. Und zwar nicht nur bei den Überlebenden und Entronnenen, sondern bei allen, für die Israel ein Schutzraum sein könnte.
Kein Innehalten
»Einfach weitermachen ist unmöglich«, ist der kritisierte »Taz«-Artikel überschrieben. Damit ist er vor allem ein Plädoyer fürs Innehalten, um »über die neue Qualität dieses erneuten Zivilisationsbruchs nachzudenken«. Doch dieses Innehalten gab und gibt es bisher nicht. Denn während nicht nur die traumatisierte israelische Zivilbevölkerung, sondern Jüdinnen und Juden weltweit noch damit beschäftigt sind, für die Angriffe vom 7. Oktober Worte zu finden, sind sie bereits einer neuen Welle des globalen Antisemitismus und einer Empathielosigkeit ausgesetzt, die ihresgleichen sucht. Im aktuellen Diskurs spielt der 7. Oktober schon kaum eine Rolle mehr. Worte für das, was darauf folgte, waren dagegen schnell gefunden. Es scheint vielen, gerade auch Linken, ein Leichtes zu sein, von einem »Holocaust gegen Palästinenser*innen« oder einem »Genozid an dem palästinensischen Volk« zu sprechen. »Israel-Kritik« nennen sie das.
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Der Streit über Begriffe ist – vor allem in einem wissenschaftlichen Kontext – wichtig, um Ereignisse und Phänomene begreifen und analysieren zu können. Das Ringen um Worte braucht aber Zeit. Nur haben wir die? Denn in der Zwischenzeit führen die Genozid-Vorwürfe gegen Israel schon dazu, dass der Diskurs immer unschärfer geführt wird. Ein Hinzulernen sowie Umdenken, durch das neue Ereignisse in Geschichte und Kontext eingebettet werden könnten, wird verhindert. Stattdessen hat die Verwendung von Begriffen wie »Second Holocaust«, Genozid oder Apartheid eher das Ziel zu emotionalisieren. Der Effekt: Man wähnt sich auf der Seite der Guten. Und auf dieser Seite des vermeintlich Guten stehend, findet nicht nur eine moralische Überhöhung statt, sondern es fehlt auch Platz für Empathie für Jüdinnen und Juden.
Gibt es Ähnlichkeiten?
Dem Bezug auf den Begriff des Zivilisationsbruchs, um den 7. Oktober zu beschreiben, wird letzten Endes vorgehalten, den Holocaust zu relativieren. Dabei liegt darin eher der Versuch, Lehren aus dessen Analyse zu ziehen. Adornos kategorischer Imperativ mahnt, Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.
Gibt es denn keine Ähnlichkeiten? Auch am 7. Oktober zeigte sich ein eliminatorischer Antisemitismus. Was sonst sollte die Triebfeder des Mordens an diesem Tag gewesen sein? Warum sonst sollte die Hamas zu einem weltweiten Tag des Hasses gegen Jüdinnen und Juden aufrufen? Das lässt sich allein aus der Konfliktgeschichte nicht erklären. Erkennen wir den Vernichtungswillen erst, wenn jemand ein Konzentrationslager errichtet und an das Eingangstor »Arbeit macht frei« schreibt?
Jüdinnen und Juden beklagen gerade eine transgenerationale Retraumatisierung. Es geht auch dabei nicht darum, den Holocaust zu relativieren. Vielmehr geht es darum anzuerkennen, dass die Erinnerung an den Nationalsozialismus aus jüdischer Perspektive auf der Hand liegt: Überlebende versteckten sich unter Leichen, Menschen wurden aus ihren Häusern verschleppt; in Berlin wurden wie in den 30er Jahren Häuser mit Davidsternen markiert.
Unbegriffener Antisemitismus
Die vergangenen zwei Monate haben offen und unverhohlen gezeigt, was seit Jahren schon von Jüdinnen und Juden sowie Menschen aus dem antisemitismuskritischen Bereich prophezeit wurde: Ein enthemmter Antisemitismus lässt sich leicht mobilisieren, und zu viele zeigen noch Verständnis dafür. So wurde der 7. Oktober aus einem propalästinensischen Milieu als »Befreiungskampf« abgefeiert. An Universitäten demonstrieren weltweit Linke, deren vermeintliche Solidarität mit den Unterdrückten in Palästina oft genug in Israel-Hass umschlägt. Sie schrecken dabei nicht davor zurück, die Shoah zu relativieren oder auch Gewalt gegen jüdische Studierende anzuwenden. Vielen fällt es offensichtlich schwer, sich von Islamisten zu distanzieren.
Breite Teile der Kunst- und Kulturszene schwiegen erst zu den Ereignissen am 7. Oktober, verharmlosten den Terror der Hamas sogar und führen nun lieber eine ausgehöhlte Debatte um »Kunstfreiheit«. Und wieder wird in großen Leitmedien und auf den besten Sendeplätzen von Cancel Culture geraunt. Die Debatte um Masha Gessen und die Verleihung oder Nichtverleihung des Hannah-Arendt-Preises ist nur das aktuellste Beispiel. Der Skandal: Gessen schrieb, Gaza werde, wie einst das Warschauer Ghetto, liquidiert. Auch dafür haben viele Verständnis. Hier wird aber nicht mehr verglichen, hier wird gleichgesetzt. Die Israelis sind dann die neuen Nazis. Täter-Opfer-Umkehr im klassischen Sinne. Kritik an solcher Gleichsetzung wird schlicht als Cancel Culture abgetan.
Doch was folgt nun aus dieser ganzen Debatte um Begriffe und deren Auslegung, und wie gehen wir mit dem Geschehenen des 7. Oktober um? Deborah Hartmann und Tobias Ebbrecht-Hartmann haben mit dem »Taz«-Artikel und dem »erneuten Zivilisationsbruch« ein Angebot gemacht, an dem in der Auseinandersetzung und der Benennung des Geschehenen angesetzt werden sollte. Doch wird sowohl in ihrem Artikel als auch in der andauernden Debatte elf Wochen später deutlich: Das Ringen um die richtigen Worte wird noch eine Weile andauern.
Zunächst sollte es um differenzierte und solidarische Empathie gehen. Selbstverständlich bezieht diese sich auch auf die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Eine progressive Linke muss sich aber auch solidarisch mit Jüdinnen und Juden zeigen, und zwar weltweit. Das beinhaltet auch den Kampf gegen alle Formen des Antisemitismus. Lauter waren und sind aber die Rufe nach einer Waffenruhe, als scheinbar universalistische Position, die alle Gewalt verurteilt. An die Konsequenzen für die Geiseln wird dabei nicht gedacht und auch nicht daran, dass die Hamas keinen Hehl daraus macht, den 7. Oktober wiederholen zu wollen.
Maria Kanitz ist Antisemitismusforscherin mit Schwerpunkt auf Intersektionalität von Antifeminismus und Antisemitismus sowie Antisemitismus im Kunst- und Kulturbetrieb.
Nikolas Lelle arbeitet seit 2020 bei der Amadeu-Antonio-Stiftung und beschäftigt sich vornehmlich mit Antisemitismus, der Erinnerung an den Nationalsozialismus und »deutscher Arbeit«.
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