Aktenkundige Ausplünderung

Landeshauptarchiv in Potsdam stellt Finanzamtspapiere aus der Nazizeit online

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Das handschriftlich ausgefüllte Formular mit Datum vom 4. Oktober 1943 informiert, »das Vermögen des Juden Hermann Israel Horwitz«, zuletzt wohnhaft in der Prager Straße 24 in Berlin, sei eingezogen worden. Er habe auf dem Postscheckkonto Nummer 129 251 noch ein Guthaben von 1200 Reichsmark und diese Summe sei an die Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten zu überweisen.

Zu diesem Zeitpunkt ist Hermann Horwitz längst ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert – am 19. April 1943 wird er mit anderen Juden in einem Viehwaggon vom Güterbahnhof Berlin-Moabit abtransportiert. Er heißt natürlich nicht Israel. Diesen zweiten Vornamen tragen die Faschisten bei allen jüdischen Männern in die Dokumente ein, damit diese sofort als Juden zu erkennen sind. Für die jüdischen Frauen gibt es den Zwangsnamen Sara.

Die Forderung, die 1200 Reichsmark dem Fiskus zu überweisen und Horwitz auf diese Weise zu berauben, lagert im brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam. Seit Dienstag sind 40 460 Originalakten der Vermögensverwertungsstelle im Internet einzusehen. In ihnen kann die Enteignung von Juden und politischen Gegnern des Naziregimes recherchiert werden. Es handelt sich um rund 2,7 Millionen Aktenseiten, die von Fachleuten begutachtet, restauriert und digitalisiert wurden. Der Bund förderte das Projekt mit 3,3 Millionen Euro und das Land Brandenburg gewährte in den Jahren 2019 und 2020 insgesamt 100 000 Euro als Anschubfinanzierung.

Brandenburgs Kulturminsterin Manja Schüle (SPD) würdigte das Projekt bereits vor einem Jahr mit den Worten: »So können berührende Einzelschicksale von Deportierten und Ermordeten erschlossen und aus den historischen Unterlagen neue Erkenntnisse gewonnen werden.«

Die den sogenannten Reichsfeinden gehörenden Grundstücke sind einstmals verkauft, ihr Hausrat ist versteigert worden. 600 Millionen Reichsmark erlöst die in Moabit ansässige Verwertungsstelle bis 1945 in Berlin und Brandenburg – in heutiger Währung ausgedrückt entspricht das einem Wert in Höhe von vier Milliarden Euro.

»Jeder kann nun selbst nachlesen, was damals geschah«, sagt Archivar Dominic Strieder am Dienstag. Beraubt werden in der Nazizeit beispielsweise auch Martha Liebermann, Witwe des 1935 verstorbenen Malers Max Liebermann, und der Rechtsanwalt Ludwig Chodziesner, Vater der Lyrikerin Gertrud Kolmar. Die Akten sind Strieder zufolge auch heute noch wichtige Dokumente, um Ansprüche auf eine Entschädigung geltend zu machen. Dabei ist der Zugang via Internet von Vorteil, da viele Nachfahren heute nicht in Deutschland leben.

Dr. Hermann Horwitz ist ab Sommer 1924 Mitglied des Fußballvereins Hertha BSC und dann schon bald Mannschaftsarzt. Er hat als Sportmediziner Pionierleistungen vollbracht, zum Beispiel Ernährungspläne für die Spieler erarbeitet und sich gefragt, wie erreicht werden könnte, dass Fußballer vor wichtigen Begegnungen nicht durch Lampenfieber gehemmt sind. Außerdem bringt er 1926 mit Kollegen ein Fachbuch über die Sportmassage heraus. Dass Hertha 1930 und 1931 deutscher Meister wird, gilt als Leistung, an der Mannschaftsarzt Horwitz seinen Anteil hat. In einem Lied zur Meisterfeier von 1930 gibt es eine ihm gewidmete Strophe: »Er schaut uns an mit tiefem Blick, au, au au./ Schon zieht die Krankheit sich zurück, au, au, au.«

Das alles zählt 1938 nicht mehr. Horwitz wird wegen seiner jüdischen Herkunft aus dem Verein ausgeschlossen – eine Maßnahme, die Hertha BSC im Jahr 2018 posthum aufhebt. Im KZ Auschwitz bewahrt der ehemalige Mannschaftsarzt mindestens einen Mithäftling vor der Gaskammer: Erwin Valentin ist bereits zur Ermordnung selektiert, doch Horwitz überzeugt den SS-Lagerarzt, der Mann werde sich erholen und als nützlich erweisen. Hermann Horwitz selbst überlebt den Holocaust nicht. Um an sein Schicksal zu erinnern, liegt in der Prager Straße ein Stolperstein vor seinem letzten Wohnsitz in Berlin. Hertha-Fans kümmern sich um die Reinigung.

Eine ausgezeichnete Beschreibung der Machenschaften der 1942 in Moabit eingerichteten Vermögensverwertungsstelle findet sich in dem bereits 2008 veröffentlichten Buch »Fiskalische Ausplünderung – Die Berliner Steuer- und Finanzverwaltung und die jüdische Bevölkerung 1933 bis 1945«. Darin schildert der Autor Martin Friedenberger auch die vorangegangenen Etappen, etwa den gezielten Missbrauch der Reichsfluchtsteuer. Eingeführt wird sie bereits 1931 noch in der Weimarer Republik, um während der Weltwirtschaftskrise die Kapitalflucht ins Ausland einzudämmen. 25 Prozent muss jeder zahlen, der Deutschland verlässt und 200 000 Reichsmark besitzt oder über ein Jahreseinkommen von 20 000 Mark verfügt. Dagegen wollen die Nazis die Juden vertreiben und dabei kassieren. Sie senken die Vermögensgrenze rasch auf 50 000 Mark und die Einkommensgrenze auf 10 000 Mark. So treiben sie 1934/35 mehr als 38 Millionen Reichsmark ein und 1938/39 sogar 242 Millionen.

Zahlen muss aber nicht nur, wer ins Exil entkommt. Jeder, bei dem die Finanzbeamten die Gefahr der Flucht sehen – und das sind im Prinzip alle Juden –, muss das Geld als Sicherheit hinterlegen. Das betrifft auch Menschen, die Deutschland überhaupt nicht verlassen wollen, wie die Eheleute Joachimsthal, von denen das Finanzamt Wilmersdorf-Nord unerbittlich 21 500 Reichsmark verlangt. Dabei leidet der 81-jährige Mann unter einer halbseitigen Lähmung und einer fast vollständigen Erblindung und denkt allein schon deswegen nicht im Traum daran, in seinem Alter noch auszuwandern.

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