Film »One Life«: Menschsein als Heldentat

In »One Life« spielt Anthony Hopkins den Briten Nicholas Winton, der über 600 Kinder vor den Nazis rettete

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 4 Min.
Vor lauter gewöhnlichen Helden vergisst der Film die gewöhnlichen Bösewichte.
Vor lauter gewöhnlichen Helden vergisst der Film die gewöhnlichen Bösewichte.

Der erste Kinofilm des Regisseurs James Hawes (Serien »Black Mirror«, »Enid«, »Snowpiercer«) erzählt die Geschichte des Briten Nicholas Winton, der von Ende 1938 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges insgesamt 669 größtenteils jüdische Kinder aus Prag, wohin sie vor der anrückenden Wehrmacht und den mordenden Deutschen geflohen waren, nach England brachte und ihnen damit ihre Leben rettete. Winton ließ sich weder von bürokratischen Hürden, noch von den Vorbehalten in der Londoner Bevölkerung von seiner Rettungsmission abhalten, und auch nicht von dem Umstand, dass die Kinder einmal quer durch das nationalsozialistische Deutschland transportiert werden mussten.

43 Jahre nach Kriegsende, 1988, wurde Winton dann in der TV-Sendung »That’s Life« mit einigen der Kinder und deren Nachkommen, die er gerettet hatte, zusammengebracht. Auch diese Szene ist in »One Life« nachgedreht zu bewundern, die Statist*innen sind übrigens ebenfalls durchweg mit tatsächlichen Nachkommen der geretteten Kinder besetzt.

Wintons Geschichte wird in »One Life« derart konventionell und betont realistisch erzählt, dass der Film oftmals wie ein Dokudrama wirkt, das schlicht die tatsächlichen Abläufe möglichst originalgetreu nachzustellen versucht. Solche filmischen Nacherzählungen bringen aber meist wenig Neues und bergen zugleich die Gefahr, dass durch die Affektbindung das Geschehene zum Gegenstand von Sentimentalität verkommt. Die Monstrosität der deutschen Verbrechen verschwindet dann hinter dem strahlenden Helden und einem zumindest kleinen Happy End. Heute erinnert man sich, wenn man etwa an »Schindlers Liste« denkt, zuerst an einen solchen Helden und die aufregende Rettungsgeschichte, weniger an das Grauen der Konzentrationslager.

»One Life« ist zwar durchaus anzumerken, dass sich seine Macher dieser Gefahr bewusst und dass sie daher bemüht sind, der Winton-Figur das allzu Heldenhafte zu nehmen, Anthony Hopkins spielt den alten Winton so bescheiden und zurückgenommen wie möglich und die Inszenierung ist oft ebenfalls von auffälliger Kargheit, trotzdem mündet letztlich alles in einem tränenreichen, eben sentimentalen Finale, in jener Szene nämlich, in der Winton die Nachkommen der von ihm geretteten Kinder trifft. Die US-amerikanische Filmkritikerin Deborah Ross rät im »Spectator« mit einiger Berechtigung: »Nehmen Sie eine ganze Packung Taschentücher mit, wenn Sie auf Nummer sicher gehen wollen und Ihren Ärmel nicht auspacken möchten.«

Warum ist der Film trotzdem sehenswert? Zunächst ist die Geschichte von Winton und den geretteten Kindern ja tatsächlich eine lehrreiche und herzerwärmende. Die entscheidenden Botschaften von »One Life«, wonach jede*r etwas für Menschen in Not tun kann und auch heute Millionen Menschen auf der Flucht sind, die Unterstützung statt Argwohn benötigen, enthalten zwar keinerlei analytischen Erkenntnisgewinn, aber darum geht es hier auch nicht. Courage, Solidarität und Empathie mit den Schwachen sind keine rationalen Kategorien, nichts, das einer systematischen Logik folgt und sie sind zu jeder Zeit mit Skepsis, Menschenfeindlichkeit und Ressentiment konfrontiert. Es dennoch zu tun, menschlich zu sein, auch gegen Widerstände und trotz persönlichem Risiko, das sollen wir hier verstehen, ist eine Heldentat, auch heute noch.

So versucht der bereits alte Winton in »One Life« seine Geschichte nach Jahrzehnten des Für-sich-Behaltens publik zu machen und stößt dabei zunächst auf Ablehnung. Allein das Wort »Refugees« führt dazu, dass der Redakteur der Lokalzeitung kein Interesse an der Geschichte hat. Das Ganze spielt zwar in den 1980er Jahren, aber die Anspielung auf aktuelle Zustände ist nicht zu übersehen. Später, als Winton mit seiner Story berühmt geworden ist und nun von dem gleichen Redakteur um ein Interview gebeten wird, sieht man ihn im Film das einzige mal erbost, er schlägt dem Mann die Tür vor der Nase zu.

In der Schlüsselszene des Films sehen wir indes in Prag dem jungen Winton (Johnny Flint) und seinen Flüchtlingshelfer*innen dabei zu, wie sie sich klarmachen, welch schwierige und gefährliche Mission sie vor sich haben und das obwohl sie nur gewöhnliche Leute (OV: »ordinary people«) seien. Er vertraue auf genau diese »ordinary people« in England, die sie als Pflegeeltern und Fluchthelfer*innen dringend benötigten, denn, so der junge Winton im Film: »Ich bin ein gewöhnlicher Mensch.« Und sein Mitstreiter Trevor sekundiert: »Das ist es was wir brauchen, eine Armee der Gewöhnlichen.«

Produzent Iain Canning erklärt die Szene so: »Wir hatten das große Glück, ihn (Nicholas Winton) noch vor seinem Tod kennenzulernen. Er war äußerst bescheiden und großzügig. Seiner Meinung nach sollte der Film nicht ihn glorifizieren, sondern feiern, wie die gewöhnlichsten Menschen Großes erreichen können.« Ja, das können sie und das soll man auch filmisch herausstellen, wie man auch einen Mann wie Nicholas Winton und seine Helfer*innen für ihre Taten durchaus feiern kann und unbedingt soll.

Das Problem mit dieser einfachen und letztlich entpolitisierten Kalenderspruch-Botschaft ist, dass auf der anderen Seite der Frontlinie eben auch eine Armee der Gewöhnlichen stand, die aber einen industriellen Massenmord organisierte.

»One Life«: Großbritannien 2023. Regie: James Hawes. Mit: Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Lena Olin. 110 Minunten. Läuft im Kino.

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