Deutschlandticket: Erfolgsprojekt mit ungewisser Zukunft

Die Züge sind zwar voller geworden, aber die Verkehrsminister feilschen weiter um das 49-Euro-Ticket

  • Martin Reischke
  • Lesedauer: 8 Min.
Insbesondere in den großen Städten – wie hier in München – ist die Nachfrage nach dem Deutschlandticket groß.
Insbesondere in den großen Städten – wie hier in München – ist die Nachfrage nach dem Deutschlandticket groß.

An einem frühlingshaften Dienstagnachmittag steht Silke Finke am Gleis 6 des Bahnhofs Berlin-Gesundbrunnen und wartet auf die Heidekrautbahn. Der blau-weiße Dieseltriebwagen bringt sie jeden Tag nach der Arbeit zurück nach Schönwalde, einem kleinen Ort im Berliner Speckgürtel. Die 49-Jährige arbeitet als Kreditsachbearbeiterin im Zentrum der Hauptstadt und pendelt schon seit vielen Jahren – seit dem 1. Mai vergangenen Jahres mit dem Deutschlandticket.

In wenigen Tagen feiert das Ticket seinen ersten Geburtstag. Egal ob die U-Bahn in München, die S-Bahn in Hamburg oder den Regionalzug von Berlin an die Ostsee: Für 49 Euro pro Monat, so das Versprechen, können Kundinnen und Kunden den gesamten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nutzen, bundesweit.

»Für mich ist das einfach ein großer Preisvorteil«, sagt Finke. Sie spart im Vergleich zu ihrem früheren Nahverkehrsabo mehr als 30 Euro monatlich – und kann mit dem Deutschlandticket sogar noch ihre Eltern an der Ostsee besuchen. »Das waren früher dann nochmal 50 Euro für die Hin- und Rückfahrt«, erinnert sich die Pendlerin. So wie Finke haben rund elf Millionen Nutzerinnen und Nutzer das Ticket bisher abonniert. Das klingt nach einer beeindruckenden Zahl. Doch die Wahrheit ist ein bisschen komplizierter, denn nur etwa eine Million sind echte Neukunden. »Der weit überwiegende Teil sind Abonnentinnen und Abonnenten, die einfach umgestiegen sind, weil das Deutschlandticket für sie günstiger ist als ihr vorheriges ÖPNV-Abo«, sagt Lars Wagner, Sprecher beim Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

Ein Verlagerung des Verkehrs vom privaten Pkw auf Bus und Bahn durch die Einführung des Deutschlandtickets ist deshalb noch nicht zu erkennen. Doch Wagner warnt vor voreiligen Schlüssen. »Alle verkehrswissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis Menschen ihr Mobilitätsverhalten wirklich verändern«, sagt der Verkehrsexperte.

Bislang war die Fortführung des Tickets immer wieder ungewiss, weil Bund und Länder über die Finanzierung stritten. Doch wenn das Kundenpotenzial ausgeschöpft werden und das Deutschlandticket zur ökologischen Verkehrswende beitragen solle, brauche es Planbarkeit und Verlässlichkeit, heißt es aus Branchenkreisen. Das gelte nicht nur für die Kundinnen und Kunden, sondern auch für die Verkehrsverbünde selbst – also die, die den öffentlichen Nahverkehr mit Bahnen und Bussen auf Straßen und Schienen bringen. Das Problem der ÖPNV-Anbieter: Weil viele Nutzerinnen und Nutzer von ihren bisherigen Abos auf das günstige Deutschlandticket umgestiegen sind, gehen den Nahverkehrsunternehmen große Summen bei den Ticketverkäufen verloren – allein für 2024 rechnet der VDV mit Verlusten in Höhe von etwa vier Milliarden Euro. Deshalb wird das Ticket in diesem Jahr noch von Bund und Ländern zu gleichen Teilen mit insgesamt drei Milliarden Euro gefördert, der restliche Fehlbetrag soll durch noch nicht verbrauchte Gelder aus dem vergangenen Jahr ausgeglichen werden. Ob das am Ende reichen wird, um die Kosten der Verkehrsverbünde tatsächlich zu decken, ist allerdings noch offen – ebenso wie die Frage, wie es im Detail und auf Dauer weitergehen soll.

Einer der Menschen, die sich um eine Dauerlösung kümmern sollen, ist Rainer Genilke. Als Brandenburger Verkehrsminister ist er zusammen mit seinen Ressortkollegen aus den Bundesländern Mitglied der Verkehrsministerkonferenz. Bis Mitte des Jahres soll das Gremium ein dauerhaftes Konzept für das Deutschlandticket vorlegen. Genilke gibt sich optimistisch: »Wir müssen irgendwann zu einem normalen Prozess kommen, der nicht das Ticket an sich infrage stellt«, sagt der CDU-Politiker. »Und ich halte schon alle Verkehrsminister für befähigt, sich auf einen solchen Pfad zu begeben.«

Streitpunkte bei den anstehenden Verhandlungen sind etwa unterschiedliche Regelungen in den Ländern und die Finanzierung des Tickets. Noch ist offen, ob und wie es einheitliche Mitnahmebedingungen etwa für Kinder, Haustiere oder Fahrräder geben kann, um den viel beklagten Flickenteppich zu überwinden. Ungeklärt ist auch, ob sich Bund und Länder wie bisher die Kosten teilen. »Ich glaube, es ist eine gute Basis, wenn man sich über die hälftige Finanzierung des Tickets nicht jedes Mal grundlegend unterhält, sondern das erst einmal als gegeben hinnimmt«, sagt Genilke.

Doch Planungssicherheit für Kunden und Verkehrsverbünde sei nur die eine Seite, so der Verkehrsminister. Auf der anderen Seite müsse man auch die Attraktivität des Nahverkehrsangebots steigern, vor allem im ländlichen Raum. Lars Wagner vom Verband deutscher Verkehrsunternehmen sieht das genauso. Das zeigt auch die Verkaufsstatistik: Während das Deutschlandticket in den Ballungsräumen ein echter Renner ist, bleibt es in dünn besiedelten Regionen eher ein Ladenhüter. »Wenn ich im ländlichen Raum lebe, könnte das Ticket auch 49 Cent kosten. Es würde mir nichts bringen, wenn der Bus nur einmal die Stunde fährt, und zwar nur dahin, wo ich gar nicht hin will!«, sagt Wagner. »Ich muss natürlich auch das Angebot verbessern, weil gerade ein attraktives Ticket geschaffen wird, das wir auf der Angebotsseite nicht überall abbilden können.«

Um das zu erleben, braucht man gar nicht erst in die dörfliche Provinz zu reisen. Es reicht schon ein Blick in das Berliner Umland, um zu verstehen, dass ein Leben ohne Auto jenseits der Großstädte mit Einschränkungen verbunden ist. Das findet auch Silke Finke, die Pendlerin von Schönwalde nach Berlin-Gesundbrunnen. Finke hat kein Auto und ist deshalb auf die Bahn angewiesen. Kann sie da abends auch mal länger in Berlin bleiben, ohne dass es Probleme gibt auf dem Weg nach Hause? »Ja, aber immer mit Planung«, sagt Finke. »Man muss immer im Hinterkopf haben, dass man rechtzeitig wieder zu Hause ist.«

Tagsüber fährt ihre Bahn im Halbstundentakt, abends ab halb zehn dann nur noch einmal pro Stunde. »Bis halb eins muss man dann zu Hause sein, weil ein Taxi zu kriegen, ist auch nicht so einfach«, erzählt sie. Viele andere verlassen sich deshalb erst gar nicht auf den Nahverkehr. Auf dem Dorf ganz ohne Auto? Andreas Neumann, der im Nachbarort von Finke wohnt, schüttelt den Kopf. »Da kenne ich jetzt ehrlich gesagt keinen, der darauf verzichtet«, sagt der pensionierte Lehrer.

Noch sind nicht viele Autofahrer auf die Bahn umgestiegen. Die meisten Nutzer des 49-Euro-Tickets hatten bereits ein Nahverkehrsabo.
Noch sind nicht viele Autofahrer auf die Bahn umgestiegen. Die meisten Nutzer des 49-Euro-Tickets hatten bereits ein Nahverkehrsabo.

Was also müsste passieren, damit der Nahverkehr attraktiver wird? »Wir müssten in Ballungsräumen die Kapazitäten ausbauen, modernisieren und in ländlichen Räumen erst mal Angebote schaffen an vielen Stellen, die über das Grundangebot, das da herrscht, hinausgehen«, sagt VDV-Sprecher Wagner.

Eigentlich hatte sich die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag auf einen sogenannten Ausbau- und Modernisierungspakt für den öffentlichen Nahverkehr geeinigt. Der sieht vor, dass Bund, Länder und Kommunen gemeinsam Qualitätskriterien und Standards für Angebote und Erreichbarkeit für urbane und ländliche Räume definieren. Das FDP-geführte Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) hält das Konzept nach wie vor für eine gute Idee. »Nach der erfolgreichen Einführung des Deutschlandtickets, das zu einer erheblichen Vereinfachung der Tarifstrukturen geführt hat und das dem ÖPNV einen Digitalisierungsschub verleihen wird, sollte der Ausbau- und Modernisierungspakt aus Sicht des BMDV zeitnah dazu führen, dass gemeinsam mit Ländern und Kommunen weitere Themen für einen attraktiven und nutzerfreundlichen ÖPNV auf den Weg gebracht werden«, so das Ministerium.

Nur: Passiert ist bislang wenig – ein Konzept über verbindliche Standards im ÖPNV gibt es noch nicht. Anders verhält es sich mit dem vom Ministerium versprochenen Digitalisierungsschub. Den spüre man tatsächlich, meint Ute Bonde. »Die Einfachheit des Tickets führt ja dazu, dass wir die Gelegenheit haben, viel mehr in die Digitalisierung hineinzugehen, weil komplizierte Vertriebsleistungen einfach wegfallen«, sagt die Geschäftsführerin des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg. »Und wenn das Ticketangebot einfacher wird, dann lässt sich auch der Vertrieb viel schneller digitalisieren.«

Bonde will das Deutschlandticket zum Anlass nehmen, auch das komplizierte Tarifsystem ihres eigenen Verkehrsverbunds zu verschlanken. Doch momentan geht das noch gar nicht – und das liegt ausgerechnet am Deutschlandticket selbst. Denn die von der Einführung des Tickets verursachten Einnahmeausfälle bei den Verkehrsverbünden werden auf Grundlage des Ticketsystems im Vor-Corona-Jahr 2019 berechnet und von Bund und Ländern rückerstattet. »Und wenn ich jetzt Tickets abschaffe, dann habe ich diesen Vergleich nicht mehr und bekomme auch diesen Ausgleich nicht mehr über das Deutschlandticket«, erklärt Bonde.

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Das derzeitige Modell der Ausgleichszahlungen ist zwar nur als Übergangslösung gedacht, doch wie es danach weitergeht, weiß noch niemand. Denn weil das Deutschlandticket bei verschiedenen lokalen oder regionalen Verkehrsverbünden gekauft, aber bundesweit genutzt werden kann, ist die gerechte Verteilung der Gelder eine komplizierte Angelegenheit.

Und es gibt weitere Schwierigkeiten: Brandenburgs Verkehrsminister Genilke etwa sorgt sich darum, dass die Qualitätsstandards im Nahverkehr nicht eingehalten werden können, wenn durch das Deutschlandticket die Nutzerzahlen steigen. »Auch wenn ein Ticket günstig ist, verlange ich trotzdem, dass wir vernünftige Verkehre hinlegen, was die Sicherheit, Pünktlichkeit und die Sauberkeit in diesen Zügen angeht«, sagt Genilke. »Da haben wir zum Teil erschreckende Bilder gesehen im letzten Sommer. Aber auch die Kapazität auf den Gleisen wird natürlich endlich sein.« Der Minister hat eine klare Vorstellung, was passieren muss. »Wir brauchen mehr Geld für die Bestellung des Schienenpersonennahverkehrs und natürlich auch mehr Geld für den ÖPNV. Sonst wird die Verkehrswende nicht funktionieren.«

Schon am Mittwoch und Donnerstag hat Genilke Gelegenheit, das Thema mit seinen Amtskolleginnen und -kollegen auf der Verkehrsministerkonferenz zu besprechen. Weit oben auf der Agenda steht dann die Zukunft des Deutschlandtickets. Dass das Ticket grundsätzlich infrage gestellt werden könnte, glaubt eigentlich niemand. Auch über die hälftige Finanzierung scheinen sich die Akteure einig zu sein. Nur wie viel Geld Bund und Länder am Ende in die Hand nehmen werden und zu welchen Konditionen das Deutschlandticket in Zukunft angeboten wird – auf diese Fragen wünschen sich nicht zuletzt die Verkehrsverbünde eine schnelle und sichere Antwort.

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