Für eine kommunikative Annäherung

Klaus Lederer über den ersten Entwurf des Wahlprogramms und die Kraft einer »sozialen Idee«

  • Lesedauer: 10 Min.
Bis Juni 2013 soll das Wahlprogramm der Linkspartei stehen – nach breiter Diskussion. Wortmeldungen zum ersten vollständigen Entwurf, vorgelegt am 20. Februar und 87 Seiten dick, gibt es bereits. In seinen »Anmerkungen« schreibt Klaus Lederer, die Präambel sei dringend überarbeitungsbedürftig. Diese müsse »zwei Fragen überzeugend und nachvollziehbar beantworten: Wofür steht die Linke? Warum soll ich die Linke wählen und warum lohnt sich das?« Lederer, Landesvorsitzender der Partei in Berlin, plädiert dafür, die Idee einer neuen »sozialen Übereinkunft«, einer politischen Erzählung zu schärfen, welche »die Sorgen und Nöte der Menschen in den Mittelpunkt« stellt. Lederers Text erschien zuerst hier.

In der Reihe »Was will die Linke?« zum Wahlprogramm der Partei sind an dieser Stelle bisher Texte von Ralf Krämer (hier) und Halina Wawzyniak (hier) erschienen – die Debatte wird fortgesetzt.

Anmerkungen zum 1. Entwurf des Bundestagswahlprogramms 2013 der Linken / Von Klaus Lederer

1. Grundsätzliches

Unser Bundestagswahlprogramm soll ein inhaltliches Angebot sein. Jenseits von Konstellationsfragen und Lagerwahlkampf soll darin zum Ausdruck gebracht werden, wofür DIE LINKE im Jahr 2013 steht und warum es sich lohnt, ihr die Stimme zu geben. Insofern finde ich den offenen, werbenden Charakter als Grundzug richtig und finde, er sollte ausgebaut werden. Wir brauchen im Wahlprogramm nicht alle innerparteilichen Schlachten der vergangenen Jahre noch einmal neu schlagen. Auch taugt es nicht als Selbstvergewisserungspapier. Wir haben ein gültiges Grundsatzprogramm und benötigen kein zweites.

Inwieweit die konkreten Formulierungen zu den Themenfeldern so schon tragen, will ich hier mal dahingestellt lassen. Es gibt eine Reihe guter Vorschläge. Fakt ist, dass nach wie vor in den Zusammenhängen der Partei diskutiert wird, dass also mit einer Reihe von Vorschlägen und Änderungsbegehren zu rechnen sein wird. Das halte ich für gut und es kann uns sowohl für die Mobilisierung nach innen als auch für die Außenwirkung helfen – wenn wir nicht in den beliebten Fehler verfallen, die Debatten vornehmlich für uns selbst und für die innerparteiliche Strömungsgeografie zu führen. Aus meiner Sicht muss keine Vollständigkeit angestrebt werden. Aber ich weiß natürlich, dass der Appell zur Prägnanz und Schwerpunktsetzung, so oft erhoben, schwer einzulösen ist. Redundanzen und Widersprüchlichkeiten müssen verschwinden, Vollständigkeit ist aus meiner Sicht kein Wert. Es müssen die Grundzüge klar sein, das finde ich sehr viel wichtiger als ein Papier mit dem Charakter eines Warenhauskatalogs.

2. Zur Präambel

Dringend überarbeitungsbedürftig ist die Präambel. Krise und Schelte von Bundesregierung und Medien sind aus meiner Perspektive kein tauglicher Einstieg. Die Präambel darf gern ein wenig länger sein, aber sie muss zwei Fragen überzeugend und nachvollziehbar beantworten:

· Wofür steht DIE LINKE?

· Warum soll ich DIE LINKE wählen und warum lohnt sich das?

Gebraucht wird also eine gesellschaftliche Standort- und Funktionsbestimmung für unsere Partei in der vor uns liegenden Wahlkampfauseinandersetzung. Dabei müssen wir nicht erklären, warum die anderen nicht gewählt werden sollen, wer alles welche Schreckgespenster wohin malt, dass wir anders sind als all die anderen, man denen sowieso nicht glauben darf etc. pp.

Es muss darum gehen, selbstbewusst und klar ein eigenes inhaltliches Angebot zu formulieren, das in die Breite unserer potenziellen Wähler*innenschaft anschlussfähig ist und sich zu den aktuellen Großdebatten mit einem eigenständigen und originären Beitrag in Beziehung setzt. Dabei muss an den lebensweltlichen Erfahrungen der Leute angeknüpft werden. Sie sind der Ausgangspunkt für die »Geschichte«, die das Wahlprogramm erzählt. Nicht unsere Binnensicht ist die Folie, vor der die Debatten laufen – sondern der gesellschaftliche Diskurs, den wir nicht bestimmen. Was ich hier nicht leisten kann (und da will ich der Debatte am Wochenende auch nicht vorgreifen), ist eine Alternativpräambel vorzuschlagen. Eine kommunikative Annäherung könnte aber beispielsweise wie folgt abgeleitet werden:

Über lange Jahre war der gesellschaftliche Zusammenhalt der alten Bundesrepublik (West) auf einer Wohlstandsübereinkunft, einem sozialen Fortschritts- und Wachstumsversprechen, der Nachkriegszeit begründet. Der soziale Kitt basierte auf einem Arrangement, das prinzipiell Allen nach ihren Möglichkeiten eine Beteiligung am geschaffenen Reichtum ermöglichte, ihnen Aufstiegschancen vermittelte und gegen Wechselfälle des Lebens eine solidarische Absicherung bereithielt. Der tendenziell autoritären, patriarchalen, paternalistischen, sozial disziplinierenden und rassistischen Strukturen des Wohlfahrtsstaates der alten Bundesrepublik – mit all ihren ausgrenzenden Funktionen – bin ich mir wohl bewusst. Es geht mir hier nicht um die Verklärung des keynesianischen Wohlfahrtsstaates, sondern um die Beschreibung eines Phänomens relativer sozialer Absicherung und Teilhabe für breite (freilich insbesondere männliche und weiße) Bevölkerungsschichten, das sich mit ihm real verbunden hat.

Heute erleben viele Menschen, dass selbst diese Chancen nicht mehr allen offenstehen. Du kannst dich anstrengen, rackern, dir selbst gegenüber rücksichtslos sein – nützt dir alles nichts. Ob du heute inkludiert bist oder ausgegrenzt wirst, hängt mehr denn je von gesellschaftlichen, systemischen Strukturen ab, denen potenziell alle Menschen ausgesetzt sind. Gegen die Lebensrisiken musst du dich selbst absichern. Soziale Bindungen erodieren, die Verteilungsverhältnisse sind außer Rand und Band geraten, prinzipiell jede*r kann heute aus der Bahn geworfen werden und im Abseits landen. Auf der anderen Seite gehen Milliarden an die Banken usw.

Spätestens die Schröder-Münteferingschen »Reformen« haben den Anspruch auf sozial gerechte Verteilung des Reichtums und den allgemeinen Anspruch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum zunichte gemacht. Das Empfinden sozialer Ungerechtigkeit im Massenbewusstsein bezieht sich auf das als unfair empfundene Maß der Reichtumsverteilung (selbst unter den Bedingungen der Krise: Managerboni versus allgemeine Lohnentwicklung) und wird von den meisten Menschen bei der Meisterung ihres täglichen Lebens auch als unmittelbar eigener Konflikt erlebt. Dem setzt DIE LINKE entgegen, dass der Anspruch auf gerechte Verteilungsverhältnisse nach wie vor für alle Menschen gelten muss. Wir bestehen darauf, dass Teilhabe, Absicherung und Entfaltungschancen nicht nur für privilegierte Teile der Gesellschaft einzulösen sind, sondern – im Interesse der gesamten Gesellschaft – wieder für alle Menschen gelten müssen. Das kann uns, nebenbei bemerkt, dann tatsächlich auch von den anderen Parteien, Interessenverbänden, Gewerkschaften etc. unterscheiden, die – bemäntelt mit dem »Gesamtinteresse« jeweils nur die Interessen eines spezifischen Teils der Gesellschaft vertreten.

Ein Zurück zum Wohlfahrtsstaat der alten Bundesrepublik ist weder möglich noch wünschenswert, ich will das jetzt nicht weiter ausführen. Es geht mir um etwas anderes: Was nach wie vor möglich ist und unser Anspruch sein muss, ist die Formulierung einer mobilisierenden, verallgemeinerbaren Grundidee von »sozialer Gerechtigkeit«. Oder, um es mit Wolfgang Engler zu sagen: »Wir leben in anderen Zeiten[1], am Ausgang einer neuerlichen Weltwirtschaftskrise, von einem Aufbruch, einer revolutionären Perspektive gar ist jedoch nichts zu spüren. Mit dem Staatssozialismus hat sich zugleich die historische Alternative zum Kapitalismus verabschiedet, was bleibt, sind Alternativen im Kapitalismus, und die erscheinen nach dem keinesfalls ausgestandenen Crash des entfesselten Marktes dringlicher denn je. Möglichst viele Menschen für eine weitergehende Zivilisierung unserer Gemeinwesen zu gewinnen, darum geht es, und das bedeutet, die Ansprüche und Bedürfnisse derer, die kaum noch oder gar nicht mehr ´mitkommen´, (wieder) mehrheitsfähig zu machen. Die Bereitschaft der Mitte der Gesellschaft, mit den viel zu Vielen, die man oft geringschätzig ´Verlierer´ nennt, zusammenzuleben, hat in der jüngsten Vergangenheit deutlich gelitten; sie wiederherzustellen, ist der springende Punkt des sozialen Gegenwartsgeschehens. Sympathisanten für dieses Vorhaben, Überläufer sozusagen, auch aus den Oberschichten, den ökonomischen Eliten, zu rekrutieren, warum eigentlich nicht?«

Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist gefährdet, Ausgrenzung, Vereinzelung, Entsolidarisierung sind mächtige Trends. Das spüren mittlerweile viele Menschen. Sowohl Merkel als auch die SPD werden im kommenden halben Jahr diesen Aspekt kommunikativ aufnehmen und in ihre Wahlkampfrhetorik integrieren. Es hilft nichts, darauf permanent mit dem Verweis auf die Agenda 2010 oder die Politik der schwarz-gelben Koalition zu reagieren oder zu betonen, dass »die« es ja überhaupt nicht richtig ernst meinen würden. Das verfängt nicht nur nicht, wir müssen stattdessen unterstellen, dass selbst im übrigen Spektrum des Parteiensystems – und vor allem bei SPD und Grünen – die aktuelle Betonung »des Sozialen« mehr ist als nur eine rhetorische Phrase. Wir brauchen einen LINKE-originären Einstieg in einen Diskurs, dessen Verlauf nicht zu allererst von uns abhängt und kontrolliert wird.

Den gesellschaftszerstörenden Großtrends halten wir die Idee eines »neuen Gesellschaftsvertrags« (das Wording sollte im Wahlprogramm freilich ein anderes sein) entgegen, einer neuen sozialen Übereinkunft – unter den heutigen Rahmenbedingungen und anknüpfend an die heutigen zentralen gesellschaftlichen Problemlagen. Das gilt umso mehr unter den Bedingungen der Krise. Die Erzählung muss die Sorgen und Nöte der Menschen in den Mittelpunkt stellen, die – jeweils individuell und vereinzelt wahrgenommen – verallgemeinerbar sind. Alle sollen die Möglichkeit eines selbstbestimmten und freien Lebens erhalten, frei von äußeren (gleich ob staatlichen, ökonomischen und sonstigen) Zwängen.

Wir müssen glaubwürdig verdeutlichen, dass wir

· eigene Vorstellungen und Ideen haben, die aktuelle gesellschaftliche Krisensituation zu meistern und ein »gutes Leben« für Alle tatsächlich in den Bereich des Denkbaren und Möglichen zu rücken (»neue soziale Idee«),

· dass wir in der Lage sind, unsere Debatten anschlussfähig an gesellschaftliche Diskurse um »(soziale) Gerechtigkeit«, »Wachstum«, »Wohlstand«, »Leistung«, »Arbeit«, »Sicherheit«, »Freiheit« so zu führen, dass wir einen eigenständigen und originellen progressiven »Strang« im Gesellschaftsdiskurs stärken,

· dass wir bereit sind, alle politischen Maßnahmen und Schritte – gemeinsam mit anderen gesellschaftspolitischen Akteur*innen – mitzugehen, die zu einer Stärkung des sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, regionalen Zusammenhalts ausgerichtet sind.

Hier sind dann viele unserer eigenen, zum Teil ja sehr spannenden Diskurse anknüpfungsfähig. Umverteilung, Löhne und Rente, gute Arbeit, weniger Stress, mehr Zeit für die Familie und gesellschaftliches Engagement, Selbstbestimmung und freie Entfaltung Aller, Freiheit zu eigenständiger Lebensgestaltung, Freiheit von den sozialen Zwängen, Zumutungen und Zurichtungsrastern, die die heutigen gesellschaftlichen Zustände bereithalten, Freiheit von Abstiegs- und Absturzängsten, solidarische Risikoabsicherung und gesellschaftliche Solidarität, sozialökologischer Umbau als eigene Transformationsidee anstelle finanzmarktgetriebener Ökonomie, Demokratisierung und Sicherung einer gemeinwohlverpflichteten Daseinsvorsorge, Rolle des öffentlichen Dienstes, Basisbewegungen, Proteste und Selbstermächtigung, Kapitalismusanalyse und Herrschaftskritik – und vieles andere mehr. Damit verträgt sich auch, im Rahmen eines Wahlprogramms Ideen zur Debatte zu stellen, zu zeigen, dass wir nicht fertig sind mit all unseren Überlegungen, dass auch wir Fragen haben und nicht nur Gewissheiten. Wir sollten auf den Duktus verzichten, im Besitz der alleinigen Wahrheit über die gesellschaftlichen Zustände seien. Das ist ehrlicher, überzeugender und am Ende auch gewinnender.

Natürlich sollte in der Präambel auch deutlich werden, wo DIE LINKE es geschafft hat, Ideen und Vorschlägen aus einer Perspektive gesellschaftlicher Minderheit zur Mehrheitsfähigkeit zu verhelfen, völlig egal, wer gerade regiert (hat). Und es muss dann im weiteren Bundestagswahlprogramm klar herausgearbeitet werden, welche Vorschläge wir im Parlament in den kommenden 4 Jahren unterbreiten wollen, um dem beschriebenen Ziel einer »neuen sozialen Idee« näher zu kommen. Ich glaube, das ist vielversprechender als die Hoffnung, bis zum 22. September 2013 könnte es ja doch noch zu einer grundsätzlicheren Auseinandersetzung um die grundlegenden Zukunftsfragen unseres Gemeinwesens kommen, weil die Krise dann auch in Deutschland zuschlägt. Diese Hoffnung ist trügerisch, aber ohnehin ambivalent. Denn es gibt keine Garantie, dass in Krisenzeiten – in denen erfahrungsgemäß in der »Mitte« zusammengerückt wird – ausgerechnet DIE LINKE in ihrer Wählerzustimmung profitiert.

3. Schlussbemerkung

Diese Überlegungen sind nicht »zitierfähig« im klassischen Sinne. Ich habe einige grobe Überlegungen formuliert, ohne dass jeder Halbsatz vollständig analytisch unterfüttert wurde. Insofern handelt es sich letztlich um eine Gedanken- bzw. Ideenskizze als Debattenbeitrag. Für eine ausgefeiltere und bis ins Letzte durchdachte Untersetzung fehlte mir einfach die Zeit. Ich bitte das bei der Lektüre des Papiers zu berücksichtigen.

[1] Engler, Der menschliche Rest oder: Was vermag der Charakter gegen die Mächte der Welt. Engler nimmt Bezug auf die Zeit, in der Brechts »Heilige Johanna der Schlachthöfe« spielt.

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