Sonntag wird abgerechnet: Worum es für die Parteien geht

Horst Kahrs über die strategischen und politischen Ausgangsbedingungen von Union, SPD, Linken und Co. am Tag vor der Wahl

  • Horst Kahrs
  • Lesedauer: 8 Min.

Für die Union geht es am Sonntag um ihre Zukunft als Volkspartei. Der Kurs von Angela Merkel wurde innerparteilich und in befreundeten Medien als »Sozialdemokratisierung« der Union beschrieben. Merkel habe die Union nach links gerückt, in Fragen der Arbeits- und Lohnpolitik, der Familienpolitik. Tatsächlich hat sie, hierin Seehofer ähnlich, auf Stimmungen und Wünsche im eigenen Wählerpotential reagiert und somit die Sozialdemokraten abgewehrt und unter deren Anhängerschaft demobilisiert.

Die marktliberale Mehrheit in der Union, die das Leipziger Programm des ersten Merkel-Wahlkampfes verantwortete, ist zur Minderheit in der Union geworden. Nun gilt es zu beweisen, dass der Merkel-Kurs tatsächlich dazu angetan ist, die Zahl der Stimmen, nicht nur die Prozente, zu steigern, und zwar insbesondere in den großen Städten, wo die Union zuletzt Bastion um Bastion verlor. Nur dann werden sich auch die Führer der Landtagsoppositionsfraktionen weiter hinter Merkel versammeln.

Im Wahlkampf wird dieses Ziel von Parteistrategen und ihrem medialen Umfeld auf zwei Wegen verfolgt: durch die positive Vermarktung von Angela Merkel als »Kanzlerin für Deutschland« und durch ein gezieltes negative campaigning gegen die SPD, der »Unzuverlässigkeit« in Sachen Ausgrenzung der Linkspartei nachgesagt wird; vor allem aber durch eine breit angelegte Kampagne gegen die Grünen (Stichworte: »Bevormundungspartei« in Sachen Ernährung usw., bürgerliche Steuererhöhungspartei und gekünstelte Skandalisierung in der Pädophilie-Debatte).

Die Attacken gegen die Grünen richten sich gezielt an bürgerliche, städtische wie ländliche Wählerschichten, die z.T. in den Landtagswahlen zuvor von der Union zu den Grünen gewechselt waren. Sie wird begleitet von einer Debatte über die Energiewende bzw. das von den grünen geschaffene EEG, welches erstens den Strom-preis hochtreibe und zweitens das »grüne Beschäftigungswunder« doch nicht geschaffen habe. Der Rückgang der Umfragewerte für die Grünen auf ihr angestammtes Niveau spricht für den Erfolg der Unions-Strategie. Möglich also, dass nicht nur Horst Seehofer die Wiederkehr der CSU als Volkspartei feiern kann, sondern auch die CDU wieder an der 40-Prozent-Marke ankommt.

Für die FDP geht es um das nackte parlamentarische Überleben. Sie hat ihr Wahlversprechen - Steuersenkungen – nicht halten können bzw. an kleine Klientelgruppen verkauft. Sie konnte aus der Viel-zahl ihrer Ministerien kein politisches Kapital gewinnen. Am Ende hat sie lediglich ein Wahlkampfthema: »Nur mit uns in der Regierung werden Steuererhöhungen vermieden.« Gleichzeitig hat sie wegen ihrer Haltung in der Eurokrise in marktliberalen Kreisen an Zuspruch verloren und sich oh-ne Not an die Union gekettet. Es ist damit zu rechnen, dass die FDP eine ausreichende Zahl von Stimmen mobilisieren kann, die Merkel unbedingt mit Rösler und Brüderle weiterregieren sehen wollen.

Für die SPD geht es, glaubt man der abgefragten Stimmungslage, nur noch darum, Peer Steinbrück achtbar aus der Patsche zu ziehen. Dass er eine Kanzlermehrheit erreicht, glaubt niemand, dass er bei einer Neuauflage des »Die-Sparguthaben-sind-sicher«-Bündnisses von 2008 mitmacht, hat er selbst ausgeschlossen. Man kann ihn, Stefan Raab hat recht, nicht wählen, weil er in der Woche nach der Wahl weg sein will. Als Regierungsperspektive bleibt die Koalition mit der Union unter den Fittichen von Angela Merkel. Im Gegensatz zu 2005 könnte die SPD dieses Mal darauf spekulieren, dass sie »nach Merkel III.« anders als 2009 als die unverbrauchte Regierungspartei und mit Hilfe einer rot-grünen Bundesratsbank erfolgreicher herauskommt.

Tatsächlich hat sich die SPD selbst in diese strategische Sackgasse manövriert. Sie wollte nicht anerkennen, dass die Linkspartei neben ihr existiert und setzte lange Zeit darauf, sie aus dem Bundestag heraushalten zu können, wenn es tatsächlich, wie in einigen westdeutschen Ländern, gelänge, eine Wechselstimmung von Rotgrün vs. Schwarzgelb zu erzeugen. Übersehen wurde, dass die Linkspartei im Westen vor allem ein bundespolitisches Phänomen ist und dort bei Bundestagswahlen immer deutlich besser mobilisieren konnte als bei Landtags-und Kommunalwahlen.

Schnell zeigte sich zudem nach der Ausrufung von Steinbrück zum Kanzlerkandidaten die Hybris dieses Vorhabens. Neben der Frage, ob die SPD vielleicht doch noch in Regierungssesseln landet, geht es für die SPD um zu zwei Fragen: Wie viele Wähler sind durch eine »haustürnahe« Wahlkampagne und einen kämpferischen Auftritt in den letzten zwei Wochen tatsächlich wieder aus dem viel beschworenen »Wartesaal« der Partizipation zur Sozialdemokratie zu locken? Und wie sind am 23.9. die Ausgangskonstellationen für die Vollendung des politischen Generationenwechsels in der SPD?

Die Grünen hatten das Ziel, ihre Einbrüche in neue bürgerliche Wählerschichten zu festigen und so vielleicht doch zum Motor einer Neuauflage von Rotgrün werden zu können. Der Gegenoffensive der Union haben sie kaum etwas entgegenzusetzen. Jetzt kämpfen sie nur noch um eine Verbesserung ihres Ergebnisses von 2009. Ein Scheitern der Strategie, auf eine Neuauflage der rotgrünen Zusammenarbeit zu setzen, wird Folgen für die weitere Debatte um die strategische Ausrichtung der Grünen-Partei und die Erweiterung ihrer strategischen Optionen haben.

Sie wird aber auch einen politischen Generationenwechsel, der noch durch Künast, Trittin, Roth blockiert wird, antreiben. Die Gegenmobilisierung seitens der Union nimmt Bezug auf die Steuererhöhungspläne (siehe unten) und den angeblich verpflichtenden »Veggie-Day«, der als typische grüne besserwisserische Bevormundungspolitik verunglimpft wird. Die Brandmarkung als geplanter staatlicher Übergriff auf die individuelle Freiheit der Lebensgestaltung richtet sich, jenseits der vordergründigen Inszenierung, gegen jene politischen Positionen, wonach in den hochentwickelten Industriegesellschaften aus Gründen der globalen Gerechtigkeit und der Umwelt sich die Lebensweise ändern müsse und dass dies nicht nur eine Frage individueller Entscheidungen, sondern auch der gesellschaftlichen, politischen Ermöglichung und Wirkmächtigkeit anderer Verhaltensweisen und Konsumentscheidungen ist.

Für DIE LINKE geht es im parteipolitischen Wettbewerb in diesem Wahlkampf nur um ein großes Ziel: den sicheren und deutlichen Wiedereinzug in den Bundestag. Ob eine sieben, acht oder neun vor dem Komma steht oder das Ergebnis, wie von Gregor Gysi gehofft, sogar zweistellig wird, ist von zweitrangiger Bedeutung. Denn der Wiedereinzug in den Bundestag, eine dritte Legislaturperiode, bedeutet, dass die Strategie der Ausgrenzung der Linkspartei seitens Sozialdemokratie und Grünen gescheitert ist, dass sich die strategischen Handlungsbedingungen und -optionen für alle Parteien, aber insbesondere für SPD, Grüne und Linke, ändern werden.

Es wird interessant sein, welche Kräfte in den Parteien dann nach der Wahl wie in Bewegung geraten. Der Wahlkampf der Linken war bereits in dieser Richtung angelegt. Ihr Plakate sprachen die Themen an, die die Linkspartei stark gemacht hatten, deren Umsetzung aber immer noch aussteht - Beispiel gesetzlicher flächendeckender Mindestlohn. »Genug gelabert!« richtet sich sowohl an »die anderen« als auch an »die eigene Partei«. Die Inszenierung eines Abwehr-Lagerwahlkampfes durch Union und FDP kam der Linkspartei insofern entgegen, als sie immer wieder Gelegenheit fand (und auch entsprechend befragt wurde), sich zu »rot-rot-grünen«-Möglichkeiten zu äußern.

Die Antworten im Stile von »Wir stehen bereit, wenn...« knüpften einerseits an die roten Haltelinien des innerparteilichen Programm-Kompromisses an, ließen andererseits aber durchblicken, dass über Prioritäten und Zeiträume zu reden sein werde. Die steigenden Umfragewerte schienen diese Kommunikationsstrategie zu bestätigen. Tatsächlich gerieten dabei aber die Themen in Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten gegenüber den Konstellationsfragen, die sich vorübergehend zu verselbständigen drohten in Gedankenspielen übers Koalieren, Tolerieren und dem, was (nicht) verantwortbar sei.

Möglicherweise erweist sich diese Strategie gegenüber einem Teil der Wählerschaft als rational, jenen, die auf den »Nutzen« ihrer Stimme für tat-sächliche Veränderungen schauen, aber kontraproduktiv gegenüber jenem Teil, der in der Linkspartei die Protestpartei sieht, die anders ist als die »Konsenssoße der anderen Parteien«. Die Frage ist also, welche Folgen diese Wahlkampf-Inszenierung über den 22.9. hinaus hat, wie weitere vier Jahre Oppositionsarbeit genutzt werden.

Das Abschneiden der Alternative für Deutschland ist die große Unbekannte in der Endphase des Wahlkampfes. Von manchen Instituten wird ihr der Einzug in den Bundestag zugetraut. Gelänge er, hielte eine brisante politische Mischung Einzug. Einerseits wären da bürgerliche marktliberale Kritiker des Euro-Krisenmanagements von Schäuble und Merkel und der Willfährigkeit des FDP-Führungspersonals, die aus dem Lager von Union und FDP kommen und in der Wirtschaftsredaktion etwa der FAZ wohlgesonnene Fürsprecher haben.

Andererseits wären da rechtspopulistische bis rechtsradikal eingestellte Mitglieder, Anhänger und Stimmen, die vor allem über Anti-Euro-Ressentiments und über die Strategie inszenierter Konfrontationen mit Meinungsforschungsinstituten, vermeintlichen Gegendemonstranten und dergleichen mehr mobilisiert werden. Es wäre, im Erfolgsfall, eingetreten, was bisherige Unions-Wahlstrategien immer vermeiden wollten und konnten: eine Partei rechts von der Union zieht in den Bundestag ein.

Sollte diese Mischung aus marktliberaler, ordnungspolitischer Radikalität und rechtspopulistischem Protest tatsächlich den Einzug schaffen, könnte es zu einer nachhaltigen Veränderung der Parteienlandschaft kommen, deren erste Folge sehr wahrscheinlich eine Koalition von Union und SPD zur »Wahrung der politischen Stabilität in Deutschland aus Verantwortung vor seiner Rolle in Europa und der Welt« sein würde.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Vorwahlbericht von Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Am Wahlabend wird es von ihm eine aktuelle Kurzanalyse des Ergebnisses geben, die bereits bekannte Langfassung des Wahlnachtberichts steht ab Montag zur Verfügung. Weitere Infos zur Wahl stellt die Rosa-Luxemburg-Stiftung hier zur Verfügung.

Am Mittwochabend diskutieren in Berlin Journalistinnen und Journalisten über die Frage: »Wie steht die Linke nach der Bundestagswahl da?« Mit dabei sind Andrea Dernbach vom »Tagesspiegel«, Katrin Rönicke, die auf FAZ.net im Blog »Wostkinder« mitschreibt, Stefan Reinecke von der »Tageszeitung« und nd-Chefredakteur Tom Strohschneider.

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